Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1906

50 Häusern wandelt man wie unter Gei¬ stern der Vergangenheit, hier, wo unseres Sängers des „Messias“ Klop¬ stocks Wiege stand. Wandeln wir nun abends durch diese Straßen, bei einem der sogenannten Sackgäßchen vorüber, so erblicken wir beim Schein des Vollmon¬ des, der still und beglückend wie ein mil¬ der Herrscher über der Stadt schwebt, ein Eckhaus, scharf beleuchtet, hervorsprin¬ gen, das uns durch seine altertümliche „ Gestalt ganz besonders auffallt. Nun be¬ merken wir auch an einem Seiten¬ vorsprunge desselben einen eingefügten Stein, auf dem ein roh ausgehauener Greis mit ausgestrecktem Stabe deutlich zu erkennen ist, und bei genauerer Be¬ trachtung dieses Steinbildes bemerken wir erst, daß es der rohen Kunst des Steinmetz gelungen war, ein vollkom¬ men erblindetes Menschenantlitz darzu¬ stellen. Lieber Leser, du wirst mich fragen warum dieser steinerne Mann blind ist und ich erwidere dir hierauf, damit Got¬ tes strafende Vergeltung recht offenbau würde, darum mußte es damals finstere Nacht sein in seinem Auge, wie an sei¬ nem Himmel! Ich will dir nun die traurige Geschichte dieses steinernen blinden Greises er¬ zählen. In jenem alten Hause lebte einst ein Goldschmied namens Julian Kettenbeil. Das Haus und noch einige andere waren sein Eigentum, denn sein Geschäft war blühend und er selbst als kunstfertig¬ ster Meister weit berühmt. Herr Julian hatte drei Töchter; die Jüngste von ihnen welche noch nicht achtzehn Jahre zählte war von unbeschreiblicher Schönheit. Sie hieß Aurora, und man behauptete allge¬ mein, daß sie nicht nur den Namen, son¬ dern auch in Antlitz und Gestalt eine wunderbare Aehnlichkeit mit der welt¬ berühmten Schönheit Gräfin Aurora von Königsmark habe, die um diese Zeit ihren Witwensitz in Quedlinburg auf¬ geschlagen hatte. Auf das Gemüt des Goldschmiedskindes wirkte die Verglei¬ chung mit der hohen Dame nicht günstig. Aurora, sonst ein gutes Kind, vermochte der Eitelkeit, die dieser Vergleich bei ihr hervorrief, nicht zu widerstehen; sie fing an, bürgerliche Verhältnisse zu verachten und sich in ihren leichtsinnigen Träumen eine Zukunft vorzustellen, die ihrer jetzi¬ gen Lebensstellung ganz fern lag. Eine kindische Gefallsucht bemächtigte sich ihrer und lehrte sie jenes halb unschul¬ dige, halb verletzende Spiel mit der star¬ ken und innigen Neigung der Männer das man Koketterie nennt, in verderb¬ licher Weise treiben. Meister Julian Kettenbeil hatte unter seinen Gehilfen einen, der seiner eigenen Geschicklichkeit am nächsten stand, ja, seine Kunst fast erreichte. Er war ein junger Mann von einigen zwanzig Jah¬ ren, mit Namen Theobald Steiner. Von schöner, kräftiger Gestalt, außerordent¬ lich rechtlichem Charakter, strenger Sitte und Meister in seiner Kunst, besaß er vollständig Kettenbeils Wohlwollen, der ihn nicht um die Welt gemißt hätte. In stiller Sehnsucht warb Theobald schon lange Zeit um Aurora. Wer hätte sie auch täglich sehen können, ohne Liebe zu ihr zu empfinden! Goldschmieds Tochter¬ lein hatte längst Theobalds feurige Nei¬ gung zu ihr erkannt, erwiderte dieselbe auch, aber es machte ihr Freude, der treuen Theobald zu quälen, was ihr Va¬ ter sehr ungern sah, denn er dachte ernst¬ lich dran, ihm sein jüngstes Kind zur Frau zu geben. In solch neckischem, kindischen Quä¬ len, das in dem Herzen des jungen Man¬ nes tiefe Eindrücke zurückließ, bewegte sich bald unter Schmollen, bald unter Versöhnung das Verhältnis dieser bei¬ den Monate hindurch und würde viel¬ leicht, trotz Auroras Gefallsucht, bei der häuslichen Beschränkung, welche damals der Bürger sich und den Seinigen auf¬ erlegte, noch lange Zeit unverändert so fortbestanden haben, wäre nicht ein schein¬ bar gleichgiltiger Umstand eingetreten der den Verhältnissen eine jähe, ahnungs¬ volle Wendung gab.

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2