Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1906

44 Er sah mürrisch auf. „Zum Teufel, ich glaubte dich in Tou¬ lon.“ „Deine Schuld ist es nicht, daß ich nicht dort bin! Höre jetzt, was ich dir zu sagen habe. Wenn wir beide diese Nacht überleben, so werde ich dich für deinen Verrat zur Rechenschaft ziehen! Ein stierer Blick seiner tiefliegenden Augen war die ganze Antwort, und er drehte sich wieder herum, als wolle er schlafen. „Ecce un maladetto!“ (das ist ein gottloser Mensch) sprach einer der Uebri¬ gen mit bedeutungsvollem Achselzucken, als ich von ihm fortging. „Wißt Ihr etwas von ihm?“ fragte ich begierig. „Cospetto! Ich weiß nur, daß er ein Gotteslästerer ist.“ Da ich nichts weiter erfahren konnte, legte ich mich ebenfalls, möglichst weit von meinem Feinde entfernt, auf den Boden und verfiel in einen tiefen Schlaf Um sieben Uhr weckten die Wachen diejenigen, welche noch schliefen und reichten jedem einen kleinen Krug schwa¬ chen Weines. Dann mußten wir uns paarweise aufstellen und hinter der Kirche bis zu einer schrägen Fläche mar¬ schieren, welche direkt zum Dach unter¬ 2 halb des Kuppelturmes hinaufführte. Von hier aus ging es über eine große An¬ zahl Treppen und gewundener Gänge im Innern des Turms; an den Treppen¬ absätzen wurde je eine Anzahl von uns detachiert und zur Arbeit aufgestellt. Mein Platz befand sich auf der Hälfte des Weges und ich sah, daß Gasparo noch höher hinaufstieg. Als wir sämtlich postiert waren, ging der Oberaufseher herum und erteilte uns unsere Instruk¬ tionen. Beim ersten Signal mußte jeder durch die Fensteröffnung, an der er stand, steigen und sich rittlings auf ein schmales Brett setzen, das an einem star¬ ken Seil dicht unter dem Fenster hing. Der Strick war innen um eine Rolle gewunden und befestigt. Beim zweiten Signal sollte jedem eine brennende Fackel in die rechte Hand gegeben wer¬ den, und er mußte den Strick fest mit der Linken ergreifen. Beim dritten Sig¬ nal sollte ein ihm zugewiesener Gehilfe das Seil abwickeln, so daß er schnell über die Kuppelwölbung hinuntergleiten konnte. Beim Hinabfahren mußte er jede Lampe, die sich auf seinem Wege be¬ fand, mit der Fackel berühren. Nachdem wir diese Instruktion empfangen hatten wartete jeder an seinem Fenster auf das erste Signal. Es dunkelte schnell, und die sogenannte silberne Illumination war seit sieben Uhr fertig. Die sämtlichen großen Rippen der Domkuppel, so weit ich sehen konnte alle Gesimse und Friese der Fassade, alle Säulen und Geländer der großen Kolonnade, die sich vierhundert Fuß unter uns um die Piazza herumzog waren durch Papierlaternen illuminiert, deren gedämpftes Licht einen Silber¬ kranz ausstrahlte, welcher einen wunder¬ baren, magischen Anblick gewährte. Zwi¬ schen diesen Laternino waren auf der ganzen, der Piazza zugekehrten Seite der Kirche eiserne, mit Talg und Terpentin gefüllte Schalen, Padelle genannt, ange¬ bracht, und die gefahrvolle Aufgabe der Sanpietrini bestand im Anzünden der¬ jenigen, die den Turm und die Kuppel bedeckten. Wenn diese sämtlichen Lampen brannten, war die goldene Illumination hergestellt. Einige Momente peinlichster Span¬ nung verstrichen. Von Sekunde zu Se¬ kunde nahm die Dunkelheit zu, leuchteten die Laternino heller und schlug das sum¬ mende Getöse der Tausenden, die sich auf der Piazza und den Straßen drängten lauter an unser Ohr. Ich fühlte die kur¬ zen Atemzüge des neben mir stehenden — Assistenten, ich konnte fast das Klopfen meines Herzens hören. Plötzlich flog der erste Signalruf gleich einem elektrischen Strom von Mund zu Mund; ich stieg hinaus, schlug die Beine fest über das Brett und erfaßte beim zweiten Signal die brennende Fackel. Beim dritten wurde ich hinunter gelassen, und wäh¬ rend ich im Hinabgleiten jede Schale, an der ich vorbeikam, anzündete, sah ich

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