Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1906

42 müssen. Wie angenehm und ehrenvoll hätte sich meine Zukunft gestalten kön¬ nen! Das harte Leben, das ich in der letzten Zeit geführt, hatte mich sowohl körperlich wie geistig gekräftigt. Ich war gewachsen, und meine Muskeln waren stärker geworden. Ich war doppelt so tat¬ „ kraftig und entschlossen wie vor einem Jahre. Was half mir das alles aber jetzt? Ich mußte sterben und es konnte nur dazu dienen, mir den Tod zu erschweren. Ich erhob mich und durchwanderte die Straßen wie am vorigen Tage. Einmal bat ich um ein Almosen und wurde ab¬ gewiesen. Mechanisch folgte ich dem Strome der Equipagen und Fußgänger und befand mich bald mitten in dem Gewühl, das in der Osterwoche den Dom von St. Peter unaufhörlich umwogt. Betäubt und ermattet wendete ich mich seitwärts in das Vestibül der Sagrestia und kauerte mich im Schatten eines Tor¬ bogens nieder. Ich sah, wie zwei Herren einen gedruckten Zettel lasen, der an einen in der Nähe befindlichen Pfeiler geklebt war. „Gütiger Himmel,“ sprach der eine, „wie können die Menschen ihren Hals nur für die wenigen Paoli wagen. „Und trotzdem ihnen bekannt ist, daß dabei jedesmal von achtzig Arbeitern sechs bis acht zerschmettert werden, fügte sein Gefährte hinzu. „Entsetzlich! Das sind ja durchschnitt¬ lich zehn Prozent! „Nicht weniger. Es ist eine verzweifelte Arbeit. „Aber ein schöner Anblick,“ lautete die philosophische Antwort des ersteren. Und damit entfernten sie sich. Ich sprang auf und las das Plakat be¬ gierig. Die Ueberschrift hieß: „Die Illu¬ mination des Domes von St. Peter!“ und es enthielt die Ankündigung, daß achtzig Arbeiter zur Erleuchtung der Gesimse, Pfeiler, Kolonnaden u. s. w. gesucht würden, und daß der Admini¬ stratore demgemäß beauftragt sei u. s. w. u. s. w. Am Schlusse wurde mitgeteilt, daß jeder auf dem Kuppelturm beschäf¬ tigte Arbeiter ein Mittagessen und vierundzwanzig Paoli erhalten würde, während der Sold der übrigen Leute we¬ niger als ein Drittel dieser Summe be¬ trug. Es war freilich eine verzweifelte Ar¬ beit, ich war aber ein verzweifelter Mensch. Schlimmstenfalls drohte mir nur der Tod, und es war ebenso gut, nach einem kräftigen Mahle zu sterben, ( als zu verhungern. Ich ging sofort zu dem Administratore, wurde in die Liste eingetragen, erhielt zwei Paoli Handgeld und war somit verpflichtet, mich um 11 Uhr am nächsten Morgen einzustel¬ len. An jenem Abend speiste ich in einer Bude auf der Straße und fand ein Unterkommen auf einem Heuboden hin¬ ter der Via del Arco. Am Ostersonntag, den 16. April, mor¬ gens elf Uhr, stand ich also inmitten einer Menge armer Teufel, die sämtlich so elend wie ich selber zu sein schienen, vor der Tür des Administrators. Die Piazza vor der Kathedrale glich einer farbenreichen und wechselnden Mosaik. Die Sonne schien hell, die Fontänen spielten, die Fahnen wehten über Sankt Angelo. Es war ein herrlicher Anblick. Ich genoß denselben aber nur einige Augenblicke. Mit dem Glockenschlage elf wurden die Torflügel geöffnet und wir drängten uns in eine Halle, wo zwei lange Tafeln für uns gedeckt waren. Zwei Schildwachen standen an der Tür, ein Diener wies uns unsere Plätze an und ein Priester sprach das Tischgebet. Während er betete, überkam mich eine seltsame Empfindung. Ich fühlte mich gezwungen, nach der anderen Tafel hin¬ überzublicken und sah dort— ja, beim Himmel, es war Gasparo. Er starrte mir gerade ins Gesicht, schlug aber unter meinem Blick die Augen nieder und ich sah, wie sein Antlitz erd¬ fahl wurde. Die Erinnerung an alle Lei¬ den, die er mir verursacht und an den hinterlistigen Schlag, den er mir auf unserer Flucht versetzt hatte, drängten in diesem Augenblick selbst meine Ueber¬ raschung, ihn an diesem Ort zu sehen, in den Hintergrund. O, wie wünschte ich

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