40 Jetzt blitzte ein Lichtschein kaum einige Ellen von meinem Schlupfwinkel ent¬ fernt über das Wasser! Sachte ließ ich mich der Länge nach niedergleiten und tauchte gänzlich unter den tiefen Schlamm. So lag ich mit klopfendem Herzen, bis ich dem Ersticken nahe war und mir die Pulsadern in den Schläfen zu zerspingen drohten. Endlich konnte ich es nicht länger ertragen, ich richtete mich empor — schöpfte Atem — und lauschte. Alles war still und dunkel. Meine Ver¬ folger waren vorüber gegangen. Ich ließ noch eine Stunde verstreichen, ehe ich mich wieder zu rühren wagte. Unterdessen war es stichdunkel geworden, und es begann in Strömen zu regnen. Das Wasser in dem Graben wurde zu einem rauschenden Bache, den ich gerade unter den Fenstern des Wachthauses durchwatete, ohne gehört zu werden. Nachdem ich mich eine Meile lang durch das Wasser gearbeitet hatte, wagte ich mich auf den Fußweg hinaus. Der Wind peitschte mir den Regen unaufhörlich ins Gesicht, und durch die umher gestreuten Steine wurden meine Schritte fortwäh¬ rend aufgehalten, so daß ich nur mühsam den geschlängelten Gebirgspfad verfolgen konnte. Um Mitternacht erreichte ich das freiere Land. Kein Stern leuchtete vom Himmel, und nur der Nordostwind diente mir als Führer. Ich schlug einen rauhen Pfad zur Rechten ein, der durch ein Tal zu führen schien. Allmählich ließ der Regen nach und ich konnte die dunklen Umrisse einer sich links neben meinem Wege hinziehenden Hügelkette erkennen. Das mußte das Gebirge des Maures sein, ich war also auf dem richtigen Wege nach Italien. Ohne Unterbrechung, nur ab und zu einige Minuten am Wegrande aus¬ ruhend, setzte ich meine Flucht die ganze Nacht hindurch fort. Ermüdung, Hunger und Entkräftung verhinderten mich aller¬ dings am schnellen Gehen, aber die Liebe zur Freiheit war so stark in mir, daß es mir gelang, mich durch stetiges Fort¬ schreiten viele Meilen von Toulon zu ent¬ fernen. Um 5 Uhr, als der Tag zu däm¬ mern begann, hörte ich Glockengeläute und bemerkte, daß ich mich einer großen Stadt näherte. Um diese zu vermeiden war ich genötigt, umzukehren und mich nach den Bergen zurückzuwenden. Die Sonne war jetzt aufgegangen, und ich wagte nicht weiterzugehen. Im Vorüber¬ gehen zog ich einige Rüben von einem Felde aus und verbarg mich dann in einem kleinen, einsamen Gehölz, das in einem tiefen Tale lag und mir ein siche¬ res Versteck für den Tag gewährte. Als die Nacht hereinbrach, setzte ich meine Wanderung fort, mich noch beständig im Schutz der Berge haltend. Dann und wann genoß ich den flüchtigen Anblick herrlicher, mondbeleuchteter Buchten und stiller, fern vom Gestade liegender In¬ eln. Hin und wieder kam ich an freund¬ lichen, im Schatten von Palmen liegen¬ den Hirtendörfchen und dann wieder an Vorgebirgen vorüber, auf denen Kaktus und Aloe wucherten. Ich rastete den gan¬ zen zweiten Tag in einer verfallenen Hütte auf dem Grunde einer verlassenen Sandgrube. Am Abend fühlte ich jedoch daß ich mir das Leben nicht länger ohne Nahrung fristen konnte, und so schlug ich den Weg nach einem kleinen, an der Küste gelegenen Fischerdorfe ein; ich er¬ reichte die Ebene, als es schon vollstän¬ dig dunkel war. Dreist ging ich an den Fischerhütten vorüber, nur von einer alten Frau und einem kleinen Kinde ge¬ sehen, und klopfte an die Tür des Pfar¬ „ rers. Er selber offnete und ich erzählte ihm meine Geschichte in wenigen Worten. Der edle Mann glaubte mir und beklagte mich. Er gab mir Speise und einen Trunk Wein, versorgte mich mit einem alten Rock an Stelle meiner Sträflings¬ jacke, einem Tuch für meinen verwunde¬ ten Kopf und einem Zehrpfennig von mehreren Francs. Mit Tränen des Dan¬ kes nahm ich Abschied von ihm. Ich wanderte die beiden folgenden Nächte hindurch weiter, immer unweit der Küste, während ich mich zur Tages¬ zeit zwischen den Klippen versteckte. Am fünften Tage, nachdem ich auf meiner nächtlichen Wanderung Antibes berührt
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