Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1906

38 aller Augen dorthin gerichtet, jeder Sträf¬ ling ließ die Arbeit ruhen, alle Wachen präsentierten das Gewehr. In diesem Moment schleuderten wir unsere Mützen und Spitzhacken fort, kletterten über den holprigen Felsen, auf dem wir uns ge¬ plackt hatten, sprangen in die Schlucht hinunter und flohen den Gebirgspässen zu, die in das Tal führten. Die eisernen Ringe an unseren Beinen erschwerten uns das schnelle Laufen, und die Hinder¬ nisse vermehrten sich durch die Schnecken¬ windungen und die unebne Beschaffen¬ heit des mit Granitblöcken bestreuten Weges. Plötzlich, als wir um eine schar vorspringende Klippe bogen, befanden wir uns vor einem Wachthäuschen und zwei Schildwachen. Angesichts der nur wenige Ellen von uns entfernten Soldaten war ein Rück¬ zug unmöglich. Mit dem Zuruf: „Ergebt euch!“ legten sie ihre Gewehre auf uns an. Gasparo wandte sich zu mir herum wie ein angeschossener Wolf. „Sei verflucht!“ rief er und versetzte mir einen furchtbaren Faustschlag, „bleib da und laß dich fangen! Ich habe dich stets gehaßt! Ich fiel zu Boden, wie von einem Schmiedehammer getroffen, sah noch im Fallen, wie er den einen Soldaten zu Boden warf und an dem andern pfeil¬ schnell vorüberflog, hörte einen Schuß . . . dann wurde es Nacht um mich her und mir schwanden die Sinne. Als ich meine Augen wieder öffnete, lag ich auf dem Fußboden einer kleinen, leeren Kammer, die durch ein winziges Fenster dicht an der Decke schwach erhellt wurde. Es war mir, als seien Wochen verstrichen, seit ich das Bewußtsein ver¬ loren hatte. Ich besaß kaum Kraft ge¬ nug, um mich zu erheben, und als ich aufgestanden war, konnte ich mich nur mühsam auf den Füßen halten. Wo mein Kopf gelegen hatte, befand sich eine Blui¬ lache. Schwindlig und verwirrt lehnte ich an der Wand und versuchte nachzudenken. Erstens, wo befand ich mich? Augen¬ scheinlich nicht in irgend einem Teile des Gefängnisses, dem ich entflohen war. Dort gab es nur massive Steinmauern und Eisengitter, hier waren getünchte Latten und Mörtelwände. Ich mußte in einem Oberzimmer des Wachthäuschens sein. Wo waren denn die Soldaten? Wo war Gasparo? Würden meine Kräfte wohl ausreichen, um das Fenster zu er¬ klimmen, und nach welcher Richtung mochte es liegen? Ich schlich mich zur Tür und fand sie verschlossen. Ich lauschte mit angehaltenem Atem, konnte aber weder unten noch oben ein Geräusch entdecken. Ich kroch zurück und sah, daß sich das Fenster mindestens vier Fuß oberhalb meines Kopfes befand. Die glatte Mörtelwand bot nirgends einen Vorsprung. Wäre nur ein Kamin in dem Raum gewesen, so hätte ich eine Stange losgebrochen und mit dieser Ver¬ tiefungen in die Mauer gegraben. Doch halt! Da war ja mein Ledergürtel mit dem eisernen Haken, der meine Kette zu halten pflegte, wenn ich nicht bei der Ar¬ beit war. Ich riß den Haken heraus * kratzte den Mortel an mehreren Stellen los, kletterte die Wand hinan und öffnete das Fenster. Begierig sah ich hinaus. Vor mir, keine vierzig Fuß entfernt, erhob sich die Klippe, in deren Schutz das Häus¬ chen gebaut war; zu meinen Füßen lag ein kleiner Gemüsegarten, von dem Fel¬ sen durch einen schmutzigen Graben ge¬ trennt, der durch die Schlucht zu fließen schien. Rechts und links erstreckte sich der steinige Pfad, den wir entlang gekommen waren. Mein Entschluß war schnell gefaßt. Blieb ich hier, so mußte ich meine Ge¬ fangennehmung mit Bestimmtheit erwar¬ ten. Ein Fluchtversuch konnte mein Los nicht verschlimmern. Noch einmal lauschte ich —alles blieb still. Ich zwängte mich durch den kleinen Fensterflügel, ließ mich so leicht wie möglich auf den feuchten Boden nieder und überlegte dann, dicht an die Mauer gedrückt, wohin ich mich zunächst wenden sollte. Erklomm ich das Riff, so wäre ich die Zielscheibe des ersten Soldaten geworden, der mich sah. Wagte ich mich in die Schlucht, so lief ich möglicherweise Gasparo und seinen

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