36 ner letzten Flucht Totschlag verübt. Nur der Himmel weiß, wie meine Leiden durch die entsetzliche Gemeinschaft verdop¬ pelt wurden, wie ich vor der Berührung seiner Hand zurückschreckte, welchen Ekel ich empfand, wenn mich sein Atem treifte, während wir des Nachts neben¬ einander lagen. Umsonst bemühte ich mich, meinen Abscheu vor ihm zu ver¬ bergen. Er kannte denselben so gut wie ch, und vergalt ihn mir mit jedem Mit¬ tel, das ein so rachsüchtiger Sinn nur erdenken konnte. Daß er mich tyranni¬ sierte, war nicht zu verwundern, denn er besaß Riesenkräfte und wurde im gan¬ zen Hafen von Toulon als anerkannter Despot betrachtet. Ich hatte aber bedeu¬ tend mehr als bloße Tyrannei zu er¬ dulden. Ich hatte eine sorgfältige Erzie¬ hung genossen — er beleidigte mein Zart¬ Ich gefühl absichtlich und unaufhörlich war nicht an körperliche Arbeit gewöhnt —er bürdete mir den größeren Teil unserer täglichen Arbeit auf. War mir Ruhe nötig, so bestand er darauf, um¬ herzugehen. Waren meine Glieder steif vom Liegen, so war er nicht zum Auf¬ stehen zu bewegen. Seine größte Freude bestand im Singen lästerlicher Lieder und im Erzählen der gräßlichsten Gedan¬ ken und Entschlüsse, welche die Einsam¬ keit in seinem Hirn erzeugt hatte. Er pflegte sogar die Kette so zu verwickeln, daß sie mich bei jedem Schritte wund reiben mußte. Ich zählte damals erst zweiundzwanzig Jahre und war von Kindheit an kränklich gewesen. Mich gegen ihn zu verteidigen, war mir ebenso un¬ möglich, wie ihm Gleiches mit Gleichen zu vergelten. Eine Klage bei dem Ober¬ aufseher hätte meinen Peiniger nur zu verschärfter Grausamkeit herausgefordect. Endlich kam ein Tag, an dem sein Haß nachzulassen schien. Er gönnte mir Ruhe, wenn unsere Erholungsstunde herankam. Er unterließ die Gesänge, welche ich ver¬ abscheute, und verfiel häufig in ein län¬ geres Nachsinnen. Am andern Morgen, bald nachdem wir unsere Arbeit begon¬ nen, trat er nahe genug an mich heran, um mir folgendes zuflüstern zu können: „Frangois, hättest du wohl Lust zu entfliehen?“ Ich fühlte, wie mir das Blut heiß ins Gesicht schoß. Ich preßte meine Hände zusammen, sprechen konnte ich nicht. „Kannst du ein Geheimnis bewahren?“ „Bis in den Tod.“ So höre. Morgen wird der Mar¬ schall de la Tour d'Auvergne den Hafen besichtigen. Er wird die Werften, die Ge¬ fängnisse, und die Steinbrüche inspizie¬ ren. Bei den vielen Kanonenschüssen von den Forts und den Schiffen wird, wenn zwei Sträflinge entspringen, eine Salve mehr oder weniger in der Umgegend von Toulon nicht sonderlich beachtet werden. Hast du mich verstanden?“ „Du meinst, daß niemand die Signale erkennen wird?“ „Nicht einmal die Posten am Tor, ja nicht einmal die Wachen im nächsten Steinbruch. Zum Teufel, was kann wohl leichter sein, als unsere Fesseln mit der Spitzhacke durchzuhauen, wenn der Ober¬ aufseher gerade nicht hersieht und die Salutschüsse abgefeuert werden! Willst du es wagen? „Und sollte es mein Leben gelten!“ „Abgemacht! Die Hand darauf.“ Noch nie hatte ich seine Hand kamerad¬ chaftlich ergriffen, und es schien mir, als würde die meinige durch diese Berührung mit Blut befleckt. Ich bemerkte sofort an dem tückischen Blick, den er auf mich rich¬ ete, daß er meinen widerstrebenden Händedruck richtig gedeutet hatte. Am folgenden Morgen wurden wir eine Stunde früher als sonst geweckt und im Gefängnisse einer Generalinspektion unterworfen. Ehe wir an die Arbeit gin¬ gen, wurde uns eine doppelte Ration Wein gereicht. Um 1 Uhr hörten wir die ersten Kanonenschüsse von den Kriegs¬ schiffen im Hafen erschallen. Der Ton fuhr mir wie ein elektrischer Schlag durch die Glieder. Nach einander wurden die Signale von den Forts beantwortet und von den Kanonenbooten an der Küste wiederholt. Salve auf Salve tönte von den Batterien zu beiden Seiten des Ha¬
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