Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1906

30 „Der bleibt aber mächtig lange drin¬ nen. „Mindestens zehn Minuten ist es her, meinte Brand, auf seine Uhr sehend. 7 „Hoffentlich ist ihm nichts passiert, warf Herr Holzmann ein. „Mir war, als ob ihm das Blut auch aus dem Mund käme. Ob er's übel nimmt, wenn wir klopfen?“ „Ich werd's mal riskieren, versetzte Brand. Er stand auf und klopfte leise gegen die Tür. Von drinnen erfolgte keine Ant¬ wort. „Ist Ihnen schlecht geworden, mein Herr?“ fragte Brand. Wieder keine Antwort und Brand sah seine Kollegen fragend an. Jetzt standen auch die anderen Herren auf und näherten sich der Tür. Brand drückte auf die Klinke —sie war ver¬ schlossen. „Die Sache will mir gar nicht ge¬ fallen, meinte er dann bedächtig und rief mit lauter Stimme: „Schlafen Sie, Herr, oder sind Sie krank geworden?“ Bei diesen Worten hämmerte er tüchtig an die Tür. Drinnen herrschte Totenstille. „Laß mich mal hin, Brand,“ mischte sich Holzmann ein. Er trat einen Schritt von der Tür zu dem Waschraum zurück und warf sich dann mit der ganzen Wucht seines kräftigen Körpers gegen dieselbe Das Schloß brach aus der Holzverklei¬ dung—der Raum war leer und das Fenster offen. Holzmann pfiff durch die Zähne und sagte dann: „Fort ist er! Durch's Fenster gegan¬ gen! Was soll denn das bloß heißen?“ „Hier ist irgend was nicht in der Ord¬ nung, Kinder,“ warf Brand ein. „Wol¬ len mal nachsehen, ob uns nicht was ehlt!“ „Mein Musterkasten ist fort!“ schrie Holzmann in demselben Augenblick. „Ich bin ruiniert! Mein Gott, was fange ich nur an? Es war für mindestens zehn¬ tausend Mark Ware drin! Ganz außer sich vor Entsetzen warf sich der starke Mann in die Polster und weinte wie ein Kind. Kurz entschlossen zog sein Freund Brand die Notleine und riß das Fenster auf. Gleich darauf fuhr der Zug langsam und das Gesicht des Zugsführers erschien am Fenster. „Was ist geschehen?“ fragte er. Brand erzählte ihm hastig, was vor¬ gefallen war, und der Beamte meinte, es sei am besten, wenn die Herren mit bis Wittenberge führen und von dort zurück nach Ludwigslust. In Wittenberge sollte die Polizei telegraphisch von dem Vorfall in Kenntnis gesetzt werden. Holzmann sah ein, daß es so am besten sei und wartete fieberhaft auf den Augenblick, wo der Zug halten würde. Endlich geschah das. Brand stieg mit ihm aus, er wollte den Freund in seiner verzweifelten Stimmung nicht allein lassen. Holzmann jammerte in einem fort über sein grausames Schicksal, denn wenn er den Musterkasten nicht zurück erhielt, mußte er den Verlust ersetzen. In Wittenberge brauchten sie nichtzu lange auf einen Zug zu warten, der sie nach Ludwigslust zurückbrachte. Dort angekommen, begaben sich die beiden Reisenden sofort auf die Polizei. Ein Polizist führte sie in das Zimmer des Inspektors, der, wie es schien, auf ihre Ankunft gewartet hatte. Es war ein älterer, sehr ernst aussehender Herr, der den verstört dreinblickenden Holzmann tröstend auf die Schulter klopfte und sagte: „Machen Sie sich keine Sorgen, ich glaube, ich habe gute Nachrichtenfür Sie. Holzmann machte ein erstauntes Ge¬ icht. „Kommen Sie, bitte, mit, meine Her¬ ren,“ sagte der Inspektor und führte sie in ein kleines Nebenkabinett. Kaum war Holzmann dort eingetre¬ ten, als er mit lautem Schrei auf den Tisch in der Mitte des Zimmers zu¬ stürzte und einen kleinen, schwarzen, vier¬ eckigen Kasten an sich riß.

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