Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1905

62 allen Seiten umgesehen und besonders den Hund scharf ins Auge gefaßt hatten. Dieser hatte sich überhaupt nur auf ener¬ gischen Befehl seiner Herrin abhalten lassen, die Fremden anzufallen. Meine Angst wurde, wie ich deutlich bemerkte von einem der Dienstmädchen, das dem ganzen Auftritte beigewohnt, geteilt. Ja, als sie mir später auf der Treppe begeg¬ nete, flusterte sie mir zu, daß gewiß etwas Lebendiges in dem Bündel sei; sie habe gesehen, wie es sich bewege. Wenn ich solches nun auch nicht glaubte, so teilte ich die Vermutung des Mädchens doch meiner Cousine mit und schlug ihr vor, uns selbst von der Wahrheit zu über¬ zeugen. Wir nahmen eine Lampe und gin¬ gen in das kleine Zimmer, wohin man das Bündel gebracht. Es lag auf einer hölzernen Bank, die dort stand. Einge¬ wickelt war es in braunes Zeug, ein langes, allerdings merkwürdig aussehen¬ des Paket, das in der Mitte dicker war, wie an beiden Enden. Sonst war jedoch nichts zu bemerken, und so mochte ich meiner Furcht auch nicht weiter Ausdruck geben. Gegen zehn Uhr, meine Cousinen und ich wollten uns gerade zur Ruhe begeben * hörten wir eine Tur mit großer Heftig¬ □ keit zuschlagen und dann verschließen. In demselben Augenblicke stürzte auch das Mädchen ins Zimmer und sank, bleich vor Schrecken, auf den nächsten Stuhl. Der Diener folgte ihr auf dem Fuße, ruhiger zwar, aber doch mit dem Ausdrucke eines Ernstes in seinen Mienen, der uns er¬ schreckte. „Was gibt's, Franz“, fragte Johanna aufspringend; „geschwind, sagen Sie es uns!“ „O, mein Gott, das Bündel lebt,“ rief das Mädchen an seiner Stelle. „Ruhig, Marie,“ gebot Johanna, „laß Franz sprechen. Ich hörte,“ wandte sie sich an diesen, „wie Sie die Türe des Zim¬ mers schlossen, worin die Fremden ihr Bündel niedergelegt; wie wissen Sie aber, daß das Bündel lebt?“ „Sehen Sie, Fräulein,“ antwortete Franz, „so lange das Ding im Hause ist, war die Marie in Angst und nicht zu beruhigen „Ich sah, daß es sich bewegte", chluchzte das Mädchen. „Weiter, Franz, gebot Johanna, und der Mann fuhr fort: „Deshalb folgte ich ihr, bevor wir zu Bett gingen, noch einmal ins Zimmer. wenn ich auch ihre Vermutung nicht für möglich hielt. Aber Vorsicht schien mir doch geboten. Ich wandte das Bündel nach allen Seiten, konnte aber nichts entdecken. Plötzlich fand Marie ein kleines Loch in dem Zeug; sie zog es etwas weiter und sah hinein In demselben Moment riß sie mich aber mit sich fort, schlug die Tür des Zimmers hinter uns zu und verschloß ie. Das ist alles, was ich weiß, Fräu¬ lein“ schloß er. Das Mädchen war indessen etwas ruhiger geworden und antwortete nun auf die Frage meiner Cousine, was sie denn gesehen. „Es war ein Auge, Fräu¬ lein, und, o mein Gott, es sah mich an“, rief sie, zitternd in erneutem Schrecken. Wir blicken uns in stummem Ent¬ setzen an. „Glaubst du, daß es ein lebendiges Auge war, Marie?“ fragte ich. □ „Ja, es war lebendig, ganz gewiß, Fräulein,“ schluchzte sie. „O, was sollen wir tun? Es sah so schrecklich aus. „Ich kann es kaum denken“, sagte meine Cousine Johanna nach einigen Mi¬ nuten, „fast möchte ich glauben, daß deine Angst dich Dinge sehen ließ, die nicht existieren.“ Unterdessen hatte der Diener das Zim¬ mer verlassen; wir folgten und fanden ihn in einem kleinen Raume, der zum Aufbewahren von Gartengerätschaften, Jagdutensilien u. dgl. diente. Dort hatte er einen schweren Stock und zwei lange Stricke geholt und trat nun mit diesen zu uns. „Was soll's damit, Franz“, fragte Jo¬ hanna, und Gretchen fügte, vor Angst fast weinend, hinzu: „Sie wollen den Mann doch nicht töten?

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