Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1904

92 Vortugal. Im Oktober 1902 kam ein Allianzvertrag mit England zum Abschluß. Ein Vertrag mit China aus demselben Monate schafft auch ein Zollabkommen, das auf gegenüber Lappa, Macao, die Privilegien eines Vertragshafens überträgt. Belgien. Am 15. November versuchte ein am 1902 24. November 1859 in Bitonto Provinz Bari, ge¬ borener Anarchist, namens Gennaro Rubino de Rubinis, auf König Leopold ein Attentat, als derselbe vom Trauergottesdienste für die zwei letzten belgischen Königinnen in der Gudula¬ Kirche zurückfuhr. Rubino feuerte drei Schüsse auf den königlichen Wagen ab, ohne jemanden zu treffen. Er wurde sofort verhaftet. Am 19. September 1902 starb Königin Maria Henriette von Belgien nach langer August Krankheit in Spaa. Sie war am 23. 1836 als Tochter des Palatins von Ungarn, Erzherzog Josef und seiner GemahlinMarie Dorothea von Württemberg, in Ofengeboren und am 22. August 1853 mit Herzog Leopold von Brabant vermählt worden, der am 10. De¬ zember 1865 als Leopold II. den belgischen Thron bestieg. Sie war eine tief unglückliche Frau, die einsam starb, nachdem sie einsam gelebt und noch nach ihrem Tode spielte sich an ihrer Bahre ein Schauspiel ab das allerorten tiefe Erregung hervorrief. Auf die Nachricht vom Tode ihrer Mutter, eilte Gräfin Lonyay, die frühere Kronprinzessin von Oesterreich, von ferne her da es ihr bei der in das Sterbehaus, um — Lebenden nicht möglich war — von der Toten Ab¬ chied zu nehmen. Der königliche Vater aber, der im Sterbegemach anwesend war, und der Tochter die unebenbürtige zweite Ehe nicht verzeihen wollte, wies der Tochter die Tür. Beim belgischen Volke hat diese harte Tat alle Sympathien und alles Mitgefühl für die von der Schwelle des Hauses, wo die tote Mutter ruhte, weggewiesene Tochter geweckt und das Enkelkind des Kaisers von Oesterreich unterbrach die Reise zur Leichen¬ feier der Großmutter, um nicht, die Ebenbürtige des traurigen Rechtes teilhaftig zu werden, dort zugelassen zu sein, von wo man die mit dem Unebenbürtigen vermählte Mutter verwiesen. Im August 1902 unterfertigte der König der Belgier das Gesetz, durch welches alle Spiel¬ banken in Belgien (Ostende, Spaa) aufgehoben werden. Holland. Am 1. September 1902 trat das Haager Schiedsgericht zum erstenmal in Tätigkeit. Es wird über eine Streitfrage, die zwischen den Ver¬ einigten Staaten von Nordamerika und Mexiko über den sogenannten Pius=Fonds seit langem chwebt, zu entscheiden haben. Mit so großem Pompe in Szene gesetzt — und ein solches Minus¬ culum als erste Entscheidungsfrage! Parturiunt montes et nascetur ridiculus mus! Am 6. April 1903 brach in ganz Holland ein allgemeiner Ausstand sämtlicher bei der Beförde¬ rung von Personen und Waren beschäftigten Arbeiter einschließlichder Eisenbahnangestellten aus. Alle Eisenbahnlinien Bahnhöfe und Ufer¬ straßen, an denen Handels chiffe anlegen, wurden infolge dessen militärisch bewacht. Die Energie mit welcher die Regierung einschritt, und eine von der Kammer bereitsam9. April 1903 an¬ genommene und am 11.April 1903 sanktionierte Ausstandsvorlage, betreffend die Bestrafung der in den Streik tretenden Eisenbahnangestellten, owie die von der Kammer ebenfalls genehmigte Aufstellung einer militärischen Eisenbahnbrigade zur Aufrechterhaltung des Eisenbahndienstes machte der Sache bereits am 12. April 1903 ein Ende. Türkei, Griechenland und Balkan¬ staaten. Größtenteils durch bulgarische Agitatorenan¬ gezettelte und durch bulgarische Banden an deren Spitze bulgarische Offiziere standen genährte Wirren in Mazedonien hielten die Türkei in steter Bewegung. Die Rolle der türkischen Regierung ist in dieser Beziehung eine sehr schwierige; will sie die ihr von denRe¬ gierungen Oesterreich=Ungarns und Rußlands gemeinschaftlich angeratenen Reformen durch¬ führen, so stößt sie auf den bewaffneten Wider¬ stand der mohamedanischen Untertanen ihrer europäischen Provinzen, den sie dann mit Waffen¬ gewalt niederdrücken muß. Will sie energisch gegen die mazedonischen Aufrührer, die bulgari¬ chen Banden auftreten, dann fallen ihr die europäischen Großmächte in den Arm, und wieder sind es diese, welche die Pforte dafür verant¬ wortlich machen, wenn durch den mazedonischen Aufstand und seine Begleiterscheinungen Greuel¬ taten heraufbeschworen werden, wie es die Schreckensszenen waren, deren Schauplatz Salo¬ nichi Ende April und anfangs Mai 1903 war und deren Urheber mazedonische Banden und bulgarische Verbrecher waren. An mehr als fünfzig Stellen fanden am 29. April 1903 in Salonichi (Hauptort des Vilajets Salonichi, das einen Teil des alten Mazedonien umfaßt, Dynamitattentate statt, welche viele Menschen¬ leben forderten. Die Filiale der ottomannischen Bank wurde durch eine Explosion zerstört, Bomben wurden geworfen, in den Straßen fanden wütende Kämpfe statt, undauch die muselmanische Bevölkerung übte wohl mit Recht—blutige Abwehr und Rache, wobei bei 400 bulgarisch=mazedonische Dynamitarde und sonstige Mordbrenner ihr Leben eingebüßt haben sollen. Am 14. Jänner 1903 wurde, nach der De¬ Ferid mission Kutschuk Said Paschas, 4 Pascha, Präsident der Pfortenkommission für die Vilajets in der europäischen Türkei, zum Gro߬ vezier ernannt.

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