72 waltung der Okkupationsprovinzen Bosnien und Herzegowina, um deren Pazifizierung und Re¬ organisierung sich der Verstorbene große Verdienste erwarb. Zum Nachfolger Kallays wurde der bis¬ herige österreichisch=ungarische Gesandte in Athen, geboren Stefan Freiherr Burian v. Rajecz — 16. Jänner 1851 — ernannt. Die innerpolitischen Verhältnisse Oesterreichs sind noch immer nicht in ein ruhiges Fahrwasser gelangt; die übergroße Begehrlichkeit der Tschechen, welche statt sich die Gesamtinteressen des Reiches vor Augen zu halten, einfach die un¬ umschränkte Herrschaft ihrer Nation in Böhmen und den anderen Provinzen Oesterreichs, Wo Tschechen mit anderen Nationen zusammen¬ wohnen, anstreben, läßt einen dauernden Frieden nicht aufkommen; die Obstruktion der tschechi¬ schen Abgeordneten macht aber auch ein konse¬ Erzherzog Teopold Ferdinand. quentes, gedeihliches Arbeiten im Abgeordneten¬ hause unmöglich, so daß, abgesehen von einigen, mehr im Interesse der Regierung als in jenem der Völker eingebrachten Vorlagen, auch eine ganze Reihe von Gesetzentwürfen und Anträgen, deren Erledigung im dringendsten Interesse der Völker Oesterreichs gelegen wäre, nicht zur Ver¬ handlung gelangen konnte. Wohl hat die Re¬ gierung es wiederholt—so im Oktober 1902 und im Jänner 1903—versucht, im Wege von Ausgleichskonferenzen mit den Führern der Deutschen und Tschechen, resp. zwischen diesen Führern den nationalen Frieden in Oesterreich herbeizuführen, aber alles blieb vergeblich: die Tschechen wollen eben den Frieden nicht, außer wenn die Deutschen sich dazu verstehen würden, die kaudinischen Galgen, die ihnen jene errichtet, zu passieren, und dazu wollen sich wieder die Deutschen selbstverständlich nicht verstehen. Die steten, seitens der Tschechen einer geordneten Tagung des Parlaments entgegengesetzten Hinder¬ nisse brachten es mit sich, daß die Regierung sich genötigt sah, um eine regelrechte Funktionierung des Staatshaushaltes zu ermöglichen, zu dem für den Parlamentarismus und die Verfassung selbst so gefährlichen § 14—dessen Aufhebung übrigens im Parlamente, allerdings nicht mit — dem nötigen Nachdrucke, angestrebt wird ihre Zuflucht zu nehmen. So wurde Ende Dezember 1902 ein sechsmonatliches Budgetprovisorium auf Grund des § 14 durch kaiserliche Verordnung be¬ willigt und ebenso durch kaiserliche Verordnung vom 29. Juni 1903 auf Grund dieses Para¬ graphen die Forterhebung der Steuern und Ab¬ gaben, sowie die Bestreitung des Staatsauf¬ wandes in der Zeit vom 1. Juli bis 31. De¬ zember 1903 geregelt. Um ein geordnetes und ruhiges Arbeitendes Abgeordnetenhauses zu ermöglichen, wurden von einzelnen Parteien Anträge auf Aenderung der Geschäftsordnung eingebracht und am 6. Fe¬ zu¬ bruar 1903 einem Achtundvierzigerausschuß gewiesen, und von diesem ist auch ein diesfälliger Reformplan ausgearbeitet worden. Im Plenum — des Hauses wurde jedoch am 28. April 1903 und zwar, wie wir meinen in richtiger Er¬ kenntnis des Umstandes daß eine einschneidende, die Rede= und Aktionsfreiheit der Abgeordneten einschränkende Aenderung der Geschäftsordnung ein zweischneidiges Schwert, welches den ganzen Parlamentarismus über den Haufen werfen die geplante Ge¬ könnte, bilden würde schäftsordnungsreform im Wege der Abstimmung wieder zu Grabe ge¬ über die Tagesordnung tragen. Im November 1902 wurde von der Regierung eine neue Wehrvorlage im Abgeordnetenhause ewisses Entgegenkommen eingebracht, welche ein Absichten der Kriegsver¬ gegenüber den früheren Bewilligung eines er¬ waltung bedeutete und die pro 1903, sowie höhten Rekrutenkontingents — die Heranziehung von als einmalige Maßregel Stellungsjahres 1902 zur Ersatzreservisten des bezweckte. Diese Vorlage aktiven Dienstleistung wurde nach Ueberwindung unzähliger Obstruk¬ 15stündigen, vom 19. auf tionshindernisse in der übergreifenden Sitzung des den 20. Februar 1903 örmlich in zweiter und Abgeordnetenhauses dritter Lesung durchgepeitscht. Es ist dies dieselbe Vorlage, welche in Ungarn nachdem sich das Ministerium Szell in ihrer Vertretung verblutet als nicht notwendig fallen gelassen wurde, ein Sieg der Unabhängigkeitspartei, welcher in duali¬ tischer Wechselwirkung auch eine österreichische Ministerkrise herbeiführte. Ende Jänner 1903 überreichte die Regierung im Abgeordnetenhause neben anderen, wie oben erwähnt, bis heute noch nicht erledigten Aus¬
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