62 und als sie zitternd auf Befehl des riesi¬ gen Haberermeisters beim Verlesen der Spottverse unter der Türe stehen gemußt, grinsten sie alle diese teuflischen Larven voll Hohn an, daß sie, um nur nicht länger in nächster Nähe diese schrecklichen Gesichter ansehen zu müssen, die Augen geschlossen hatte. Auch die Gestalten der einzelnen gaben ihr durchaus keinen An¬ haltspunkt, auf gewisse junge Leute ihrer Bekanntschaft sicher schließen zu können. Allerdings hegte Liesel gegen gar man¬ chem Verdacht und bezweifelte auch keinen Augenblick, daß der Entleitner Tammerl von Agathenried unter den Verschwore¬ nen gewesen sein müsse. Nur zu gut wußte sie, daß sie ihn durch ihr stolzes Benehmen mehr als einmal bitter ver¬ letzt hatte. Eine derartige Beleidigung vergißt jedoch ein Bauernbursche nimmer¬ mehr, noch dazu, wenn er sich mit Recht unter die angesehensten seines Standes rechnen darf. Und jetzt— jetzt stieg ihr auf einmal ein schrecklicher Gedanke auf: Wie, wenn der von ihr verschmähte Jugend= und Hausgenosse Anderl in rachsüchtiger Bosheit die Haberfeld¬ treiber gegen sie gehetzt hätte? „O, nur in dem Punkte möchte ich Gewißheit haben!“ eufzte das Mädchen. „Grund hat er ja genug gehabt, sich an mir für all die Bitternis zu rächen, die ich ihm in der letzten Zeit kosten ließ!“ Gewiß, wahr¬ lich ganz übel lohnte sie ihm seine viel¬ " jahrige treue Liebe und hatte ihm, wie man zu sagen pflegt, immer dann „das Maul gemacht“ wenn gerade kein Besse¬ rer dagewesen. Allerdings, bis jetzt hatte sie auch gar keine tiefe Neigung zu ihm gefaßt. Trotzdem, wie unschön, ja un¬ edel sie die ganze Zeit gegen den braven Burschen gehandelt, das fiel ihr jetzt erst chuppengleich von den verblendeten Augen; jetzt lag's wie Zentnergewichte auf ihrem reuevollen Herzen, und sie machte sich die herbsten Vorwürfe, daß ie dem Wackeren je Liebe geheuchelt, ohne diese wirklich zu empfinden. Konnte es sie da nun in Erstaunen versetzen, wenn ihr Anderl, nachdem er von ihr so viel Unrecht erlitten, diese Wiedervergeltung angetan? „Wohl habe ich Strafe ver¬ dient,“ sagte sich Liesel. Doch je länger sie nachsann, desto mehr kam sie von ihrem Verdacht zurück, daß ihr Jugend¬ gefährte ihr den Schimpf des Haber¬ feldtreibens aufgesetzt oder sich gar unter den Rädelsführern befunden habe. Ein Gefühl ganz seltsamer Art tauchte im Herzen der Dirne auf und setzte sich darin fest, das ihr ernstlich verwies, den braven Anderl solcher tückischer Rachsucht für fähig zu halten. Hatte er sich nicht tets als gutgearteter, biederer Mensch gegen sie betragen? Und gerade in den letzten Monaten benahm er sich so gegen Liesel — er, der von ihr Verschmähte daß er ihr die höchste Achtung ein¬ lößte. Gewiß, noch heute am Abend vor und während des entsetzlichen Ruggerich¬ tes, war er darüber in großen Zorn ge¬ raten und hatte für ihre nächsten Ange¬ hörigen, Bruder, Schwägerin und das kleine Basel, die aufrichtigste Teilnahme gezeigt. Das war gewiß keine Verstellung gewesen. Endlich beruhigte sich Liesel, ganz überzeugt, daß sie schwören könne, wie Anderl lieber gestorben wäre, ehe er so etwas getan und daß er vom Vor¬ haben der Haberer so wenig als wie sie elber gewußt habe. Nun aber machte etwas anderes dem Mädchen schweres Kopfzerbrechen. Sie konnte eigentlich gar keine Ursachefin¬ den, warum man gerade ihr diese ent¬ etzliche Schmach angetan habe. Nur sol¬ schlechten, lider¬ chen Mädchen, die einen lichen Lebenswandel führten, ward Haberfeld getrieben. Doch gerade im sitt¬ lichen Wandel konnte sich die Bauern¬ tochter mit dem stolzen Troste trösten, daß sie auch nie ein Haarbreit vom engen Pfade der Unschuld abgewichen ei. Warum wurde nun ihr, gerade ihr * diese unausloschliche Schmach angetan, während so manche in der Gemeinde, die ich verfehlt, nie diesem fürchterlichen Ruggerichte verfallen war?! Liesel sann hin und her, da war auch nicht ein Schmutzfleck auf dem weißen Gewande ihrer Mädchentugend, und daß sie mit einem ehrbaren, vermöglichen Mann ver¬
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