Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1904

40 eine kleine Photographie niederfallen, die er eiligst wieder aufhob. „Das ist wohl Dein Bild?“ fragte Frank Morgan. „Nein, das meiner .... kleinen Maud. „Laß sehen!“ Er reichte ihnen das Bild mit dem Zögern eines Geizhalses, der sich von einem Schatze trennt. Das Porträt eines „ blonden, bleichen Madchens mit lockigen Haaren und nachdenklichem Gesicht, das von zwei großen träumerischen und tiefen Augen verklärt wurde. Ohne etwas zu sagen, reichte es einer dem andern. Ihre rauhen und knochigen Hände be¬ rührten vorsichtig dieses Kinderbildnis, und ihre Augen, die sich abwechselnd auf die Züge des kleinenMädchens und die des Vaters richteten, fanden hier den¬ selben Ausdruck der Traurigkeit und ge¬ duldiger Erwartung wieder. „Na, wir sind doch keine Wölfe!“ sagte Morgan schließlich, sich zu seinen Kame¬ raden wendend, „und ich sehe wirklich nicht ein, warum man Burton nicht er¬ lauben sollte, die Nacht hier zuzubringen. Ihrseid nicht reich, Kamerad,“ fuhr er fort, das wenige Geld betrachtend, das der Fremdling auf einer Decke ausge¬ breitet hatte, „und gern biete ich Euch, wenn niemand etwas dagegen hat, Gast¬ freundschaft unter meinem Zelte. Ein dumpfes, aber zustimmendes Murmeln folgte Morgans Vorschlag, und selbst William Palmer setzte nach einigem Zögern hinzu: „Los=Angeles ist kein Wespennest wie Mormon=Hill, und es soll nicht heißen, daß man hier einem unglücklichen Ar¬ beiter Obdach, Nahrung . . . und Stel¬ lung verweigert hat! ... Brewer, eine Lage Whisky! ... Ich zahle!“ Die Goldgräber tauschten Blicke der Ueberraschung und Verwunderung aus. In den Gebräuchen des Lagers war eine Lage Whisky auf die Gesundheit eines Fremden mit endgiltiger Einstellung gleichbedeutend; von diesem Augenblick an wurde er Bürger von Los=Angeles und hatte Anrecht, sich am Goldgraben am „Placer“ zu beteiligen. Morgan verstand, stand auf und sagte, Palmer die Hand reichend: „Palmer hat recht. Wir sind alle ein¬ verstanden. Burton, Du gehörst zu uns. Morgen wird man Dir Deinen „Claim' Grube) zuweisen, und viel Glück! ... Die Art ist gut, und es wäre sonderbar, wenn Du nicht einige Unzen für die kleine Maud herausbringst, die der Himmel seg¬ nen möge! ... Und jetzt Kameraden, auf die Gesundheit des Neuen! . . . und Maud Burtons!“ Dieser Trinkspruch wurde mit lautem Hurrah aufgenommen, und alle Goldgräber wiederholten stehend: „Maud Burton!“ Burton betrachtete sie überrascht und bewegt, wie ein Mann, den ein wohlwol¬ lender Empfang verwirrt, den eine un¬ verhoffte Lösung aus der Fassung bringt. Zwei Tränen flossen seine runzligen Wangen herab. Er dankte und steckte seine paar Mark und das Bild wieder in die Tasche, nicht ohne die Züge seines Kindes mit gerührtem Blick betrachtet zu haben. II. Das Lager von Los=Angeles hatte seine großmütige Handlung nicht zu be¬ reuen. In kurzer Zeit wurde Burton so allgemein beliebt, wie es ein einfacher schüchterner und bescheidener Mann über¬ haupt werden kann. Er stand früh auf und ging spät zu Bett, arbeitete tüchtig und ersetzte seinen Mangel an Kräften und seine Unerfahrenheit durch seine Aus¬ dauer. Als Dexter sich eines Tages das Bein brach, wurde Burton sein Pfleger, brachte die Nächte bei ihm zu und widmete ihm am Tage seine Ruhestunden; als Morgan infolge einer zu tollen „Kneiperei“ Fieber bekam, pflegte ihn Burton wie ein Kind und wagte mit seiner zögernden und ver¬ schleierten Stimme einige schüchterne Rat¬ chläge, um ihn von der Flasche abzu¬ bringen; er ermahnte ihn, besser zu leben und weniger zu verbrauchen. Man ließ ihn reden, und als Morgan wieder ge¬ sund geworden war, besserte er sich.

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2