Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1903

weiblichen Klostertracht nachgeäfften Klei¬ dung, wie in Sprache und Haltung fast nimmer erkennbar war. „Aber, Roßberger=Bäuerin!“ meinte ver¬ wundert der Notar, „was fällt Euch denn bei, ohne allen Grund Euren Prachtbesitz um so elenden Preis loszuschlagen?! Ich habe weder von einem Hagelschlag noch von einem Brand gehört, der Eure Ernte zerstört oder Eure Gebäulichkeiten einge¬ äschert hat, auch nur zu gut weiß ich, daß 2 W 4 2 i0 ser Snn nicht einmal die kleinste Hypothek Euren Hof belastet. Erinnert Euch, wie stolz Euer verstorbener Mann auf sein An¬ wesen war als Herr des besten Grundes und Bodens im ganzen Hügellande der Schlierach! Dann, vor Allem, denkt doch, Bäuerin, an Eure einzige Tochter, die Genovefa, welche allgemein als ein ebenso braves wie fleißiges Mädchen gerühmt wird!“ Als der Wucherer diese wahrhaft väter¬ 9 lichen Ermahnungen des Beamten ver¬ nahm, ward sein schmächtiger, verkrüp¬ pelter Leib von unsinniger Wuth durch¬ rüttelt und seiner vor Aufregung wogen¬ den Brust entrangen sich bebend und krächzend die Worte: „Mit Verlaub, Herr Notar! Die Roßberger=Bäuerin hier hat Alles aufs reiflichste erwogen und über¬ legt, ehe sie mit mir auf Ihr Amtszimmer kam!“ Der allverehrte Hypotheken=Beamte je¬ 2 doch erwiderte ernst und ruhig: „Alles überlegt und erwogen?! Was Ihr nur da vorbringt! Die Frau soll also bereit sein, ihr Besitzthum, das schönste im Hügel¬ lande weit und breit, um ein solches Spottgeld Euch zu überlassen, ohne daß auch nur der geringste Grund dafür vor¬ handen ist?! Ich aber meine, daß nur Ihr allein und Eure Helfershelfer in der Angelegenheit Alles überlegt und er¬ wogen haben!

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2