Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1903

86 republikanische Regierung unterstützen zu wollen und nachdem es am 12. Juni 1902 von der Deputirtenkammer mit 329 gegen 124 Stimmen ein eglatantes Vertrauensvotum erhalten, zuerst im Sinne des Congregationsgesetzes an die Schließung der nicht autorisirten Congregations¬ chulen ging, welche Aufgabe es trotz des passiven und theilweise auch activen Widerstandes der lericalen=nationalistischen Partei mit Energie und Geschick durchführte Am 28. Februar 1902 erlitt der Minister präsident Waldeck=Rousseau, als er zu Wagen von einem Bankette in Pariszurück¬ kehrte, durch einen Zusammenstoß mit einem Waggon der Tramway de l’Est Parisien eine ziemlich schwere Verletzung am Kopfe, die ihn durch längere Zeit hinderte, den Geschäften eines Amtes zu obliegen. Nach dem im August 1901 bekannt gewor¬ denen Ergebnisse der am 24. März 1901 vor¬ genommenen Volkszählung betrug die Gesammt¬ bevölkerung Frankreichs an jenem Tage 38,691.33 Köpfe, um 452.364 mehr als bei der vorletzten Volkszählung vom 29. März 1896 bei welchen Anlaß eine Zunahme von nur 133.819 Köpfen ür die Zeit von 1894—1896 constatirt worder war. Im Ganzen hat die Einwohnerzahl in 28 Departements zugenommen und in 59, nament¬ lich auf dem flachen Lande, abgenommen Anfangs Mai 1902 erregte die Aufdeckung einer der genialsten, durch die Höhe der Summe kaum jemals erreichten Betrügerei in Paris ungewöhntiches Aufsehen. Durch fast zwei Jahr zehnte gelang es einer Frau, Madame Therese Humbert, der Stieftochter des gewesenen ranzösischen Justizministers und Gattin des ehemaligen Deputirten Frederic Humbert, Gerichte, Advocaten, Banken, Juweliere, Guts¬ mäkler und Geldagenten an der Nase zu führen. Sie soll ein einfaches Landmädchen gewesen ein, als sie — nach ihrer Angabe — 1883 von dem hundertfachen Millionär Crawford zur Universalerbin eingesetzt wurde. Crawfort hatte Niemand gesehen, Niemand gekannt, aber te wies ein Testament vor und führte einen eisernen Koffer mit, in welchem hundert Millionen in Werthpapieren enthalten sein sollten. Theresc heiratete dann den Advocaten Frederic Hum bert; doch so schnell sollte der eiserne Koffer mit den Millionen nicht geöffnet werden. Sie ließ andere Erben Crawford's auftauchen, die sich Advocaten nahmen und nun durch achtzehn Jahre mit Madame Humbert Proceß führten. Auf Grund dieser Processe, in welchen es sich um die 100 Millionen Francs handelte, machte Madame Humbert Schulden in der Höhe von über 56 Millionen Francs. Sie kaufte Häuser und Güter, Goldbergwerke und Diamantenfelder, gründete eine Bank und eine Zeitung, zeigte sich als Wohlthäterin, indem sie ein Asyl für alte Priester ins Leben rief, wofür sie den päpst¬ lichen Segen empfing — und die Processe gingen fort. Endlich riß kleineren Gläubigern, die gern etwas von den hundert Millionen gesehen hätten, die Geduld und sie nahmen die Polizei und die Staatsanwaltschaft in Anspruch. Die Intervention der Behörde machte dem ganzen phantastischen Spuk ein Ende. Als das Ehepaar Humbert sah, daß es Ernst werde, ergriff es die Flucht. Die Gerichtscommission öffnete den eisernen Schrank, in dem die hundert Millionen ruhen sollten und fand —ein leeres Schmuck¬ etui und Briefumschläge. Die erfundene 100 Millionenerbschaft war die Angel, an der sich die Geldleute fingen, und die improvisirten Processe wiegten sie in Sicherheit. Die Flucht der Humbert'schen Familie, respective die Ent¬ deckung des Humbert'schen Betruges führte auch den Zusammenbruch der von Frau Humbert gegründeten französischen Lebensversicherungs¬ gesellschaft „Rente Viagère“ herbei. Wohl waren die Forderungen der Rentengläubigerzum Theile durch Hypotheken gedeckt, trotzdem wären viele der kleinen Rentenbesitzer um ihr ganzes Hab und Gut gekommen, wenn nicht der Notar Lanquest, welcher in seiner Eigenschaft als Notar bei Gründung der „Rente Viagère“ mitgewirkt hatte, der Gesellschaft 3,700.000 Francs zur Deckung des Deficits zur Verfügung gestellt hätte Der junge Pariser Ingenieur Santos¬ Dumont unternahm, angeregt durch den von Henry Deutsch de la Meurthe ausgeschriebenen Preis von 100.000 Franes für den größten Fortschritt auf dem Gebiete der Lenkbarkeit des Luftschiffes, im Sommer 1901 mit einem Luft¬ schiffe eigener Construction eine Reihe von Um¬ eglungen des Eiffelthurmes. Bei einem dieser Versuche am 8. August 1901 gerieth der Ballon Dumont's in einen starken Windstrom, welcher zu einer in ihrer unmittelbaren Veranlassung nicht ganz aufgeklärten Katastrophe führte. Der Ballon stürzte und wurde vernichtet, Dumont wie durch ein Wunder gerettet. Bald edoch nahm Dumont seine Versuche wieder auf und die dafür ein¬ jesetzte Commission sprach ihm denn auch am 4. November 1901 mit 13 gegen 9 Stimmen den Deutschpreis zu Am 9. August 1901 starb in Saigon der am 16. October 1867 in Ham geborene Prinz Heinrich von Orleans an den Folgen eines typhösen Fiebers das er sich auf einer For¬ schungsreise in Indochina zugezogen hatte Am 5. Jänner 1902 starb in Sartene im 84. Lebensjahre der ehemalige Polizeipräfect Napoleon III., Senator Pietri. — Am 15. April 1902 verschied zu Paris der Bildhauer Jules Dalon, der Schöpfer des vor drei Jahren ent¬ hüllten Pariser Kolossaldenkmals der Republik. Am 16. April 1902 starb der im Jahre 1833 in Bordeaux geborene bekannte Chroniqueur Aurelien Scholl. — Am 4. Mai 1902 verschied zu Passy der im Jahre 1824 zu Apremont geborene Romanschriftsteller Xaver Aymon de Montépin.

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