Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1903

76 Ein Ende Mai 1902 in Lemberg ausge brochener Strike der Bauarbeiter führte an 2. Juni zu einem Zusammenstoße zwischer den Strikenden und einer Militärabtheilung der wieder das Einschreiten des Militärs und der Polizei mit den Waffen zur Folge hatte Es gab auf beiden Seiten mehr oder minderschwer Verletzungen. 5 Todte und mehr als 40Ver wundete waren die Opfer des Zusammenstoßes Auf volkswirthschaftlichem und auf dem Ge¬ biete des Verkehrswesens wären folgende Vor kommnisse zu registriren: Am 23. August 190 wurden seitens der Oesterreichisch=ungarischen Ban die ersten Goldstücke in Verkehr gesetzt, eine Maß nahme, welche nicht als eine facultative oder gar obligatorische Aufnahme der Baarzahlungen zu betrachten war, sondern als Vorstadiumzur factischen Einführung der Goldvaluta. An 15. Juli 1901 fand die Eröffnung der Narenta Bocche di Cattaro=Bahn statt. Am 6. August wurde die Donaucanallinie der Wiener Stadt bahn, d. i. die Strecke Hauptzollamt—Heiligen¬ stadt mit der Abzweigung Brigittabrücke —Nu߬ dorferstraße dem öffentlichen Verkehre übergeben Mit diesem vorläufig letzten Stück der Stadtbahn dessen kurze Strecke eine förmliche Musterkarte aller technischer Schwierigkeiten darstellt, welch der ganze Stadtbahnbau auf diesem launisch coufigurirten Wiener Terrain und die Rücksicht nahme auf die bauliche Gestaltung der Stadt den Ingenieuren zur Ueberwindung bot, wurde die kürzeste Verbindung zwischen den um die Stadt und aus der Stadt herausführender Theilstrecken der Stadtbahnhergestellt. Am 20. December 1901 kam zwischen den Vertretern der GemeindeWien einerseits und einem aus der Deutschen Bank, der Länderbank und der Actiengesellschaft Siemens und Halske bestehenden Consortium ein Präliminarüber¬ einkommen zustande, kraft welchem die be¬ zeichnete Finanzgruppe der Gemeinde Wien die Uebernahme eines 4procentigen Inve¬ stitionsanlehens von 285 Millionen Kronen zu¬ sicherte, aus dessen Erlös in erster Linie die Verstadtlichung, sowie der Ausbau des Wiener Straßenbahnnetzes derBau= und Betriebs gesellschaft durchgeführt werden sollte. Nachden eitens der competenten Körperschaften das Präliminarübereinkommen genehmigt, respective die Zustimmung zur Aufnahme der Investitions anleihe ertheilt worden war, wurden am 14. April 1902 die Schlußbriefe und Verträge mit der Bau= und Betriebsgesellschaft für städtische Straßenbahnen in Wien, sowie mit Siemens und Halske wegen der Uebernahme des städtischer Straßenbahnnetzes und in Betreff des Ausbaues und Betriebes desselben unterzeichnet und aus¬ gewechselt. Damit war die factische Uebernahme des Betriebes durch die Gemeinde Wien erfolgt, welche denselben bekanntlich durch Siemens und — Halske führen läßt. Im Monate Mai 1902 kam ein Uebereinkommen der Gemeinde Wien mit der Neuen Wiener Tramway=Gesellschaft zustande, kraft welchem die Uebergabe des Netzes der Neuen Wiener Tramway an die Ge¬ meinde Wien vereinbart worden ist.Mit 1. Jänner 1904 wird der Gesammtbetrieb dieses Netzes der Gemeinde Wien übergeben werden, während bis dahin die Neue Wiener Tramway¬ Gesellschaft den Betrieb als Bevollmächtigte der Gemeinde Wien zu führenhat. — Am 27. Mai 1902 fand die Einweihung der neuen Elektricitäts¬ werke der Stadt Wien infeierlicher Weise statt. Wir gehen nunmehr auf das Gebiet der Kunst über. Am 10. November 1901 wurde durch Fürsterzbischof Cardinal Dr. Gruscha die Bene¬ diction der auf seine Initiative neu erbauten zweiten Pfarrkirche des X. Wiener Stadtbezirkes (Favoriten) vorgenommen. Die imposante schöne Kirche weicht in ihrer Charakteristik von den neueren Wiener Kirchenbauten ab, indem die Stilweise der lombardisch=venezianischen Basiliken in An¬ wendung kam und damit im Kirchenraume der malerischen Ausschmückung ein weites Feld er¬ öffnet wurde. Der kuppelgekrönte Bau des Domes zu Padua sowie die Basilika San Marco in Venedig waren hiebei von vorbildlichem Einfluß. Der Kirchenbau wurde nach den Plänen des Baurathes Ritter v. Neumann von dem Hofbaumeister Schmalzhofer, die malerisch¬ figurale Ausschmückung von Professor Wörndle v. Adelsfried (gestorben 26. April 1902), die ornamentale Malerei von Maler Schönbrunner und der Figurenschmuck von dem Bildhauen Bernard und dem mittlerweile verstorbenen Professor Düll ausgeführt. Im Laufe der Berichtsperiode trat der aus¬ gezeichnete Landschaftsmaler Professor Eduard v. Lichtenfels von seinem Lehramte an der Akademie der bildenden Künste zurück und im Februar 1902 wurde der Maler Julius Schmid zum außerordentlichen Professor und der Bild¬ hauer Hans Bitterlich zum Honorardocenten an dieser Akademie mit dem Titel eines außer¬ ordentlichen Professors ernannt Am 16. August 1901 vollendete der am 16. August 1821 in Wien geborene Landschafts¬ maler Franz Alt, der Sohn Jakob Alt's (ge¬ boren am 27. September 1789 in Frank¬ urt a. M.), der jüngere Bruder Rudolf Alt's (geboren am 28. August 1842 in Wien), der mit den beiden Genannten das glänzende Drei¬ gestirn bildet, welches den Ruf der Wiener Aquarell=Landschaftsmalerei in aller Herren Länder trug und das den eigentlichen Grund¬ stein der neueren Wiener Aquarell=Landschaften¬ schule bildet, sein achtzigstes Lebensjahr. Mehr als zweitausend Werke, groß und klein, Land¬ schaften, Architekturbilder, Interieurs, Figura¬ lisches, sind in diesem Zeitraume aus seiner Hand hervorgegangen. Unser Kaiserhaus, ins¬ besondere Erzherzog Ludwig Victor, die kaiser¬ liche Gemäldegallerie, fremde Höfe und Fürstlich¬ keiten, Kunstfreunde aller Stände und Länder

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