68 Steine von Nußgröße im Gewicht von sieben bis zehn Gramm fielen. Die ganze Insel war von einer etwa drei Millimeter dichten Aschenschichte bedeckt. Andere Berichte besagen, daß alle Schiffe im Hafen von St. Pierre zerstört wurden, daß zahllose Leichname auf den Quais lagen, welche den Anblick von Schlachtfeldern boten, daß die Eruption von einer Fluthwelle begleitet war welche die Schifffahrt unmöglich machte, daß der Ausbruch des Mont Pelée den ganzen nördlichen Theil der Insel in eine Wüste ver¬ wandelt und außer St. Pierre noch drei große Ortschaften vernichtet habe, daß aus den den Boden von St. Pierre bedeckenden völlig ent blößten Leichen die Gedärme ausgetreten waren daß ein bereits am 5. Mai dem Krater des Mont Pelée entströmender Lavastrom, welcher zwanzig Fuß hoch und eine halbe Meile breit mit unsagbarer Geschwindigkeit zum Meer hinab¬ stürzte, die vier Meilen lange Strecke vom Berg¬ gipfel bis zum Meere in drei Minuten zurück jegte und das Meer hundert Meter weit vor der Lavamasse zurücktrat. Packend ist die Schil derung, welche ein der Katastrophe durch Zufall entgangener Matrose im „Daily Mail“ unter dem Titel „Eine Vision in der Unterwelt“ von den Schrecknissen auf Martinique gibt; er besagt darin, daß St. Pierre eine Zeit lang einer wahren Hölle glich, daß Lavahagel und glühen der Pechregen mit einander wetteiferten, um die unglückliche Stadt in kürzester Zeit zu vernichten. Als Ursache des Unterganges so vieler Menschen¬ leben wird von einzelnen Berichterstattern der Lavahagel, von anderen Feuer, endlich mit Rück sicht auf den Zustand der aufgefundenen Leiche das Ausströmen tödtlicher Gase bezeichnet. Die unmittelbare Ursache der Menschenhekatomben, welche der Eruption zuzuschreiben sind, dürfte wohl kaum je festzustellen sein. Als indirecte Ursache muß man aber das unglückselige Ein¬ greifen des Gouverneurs der Insel Martinique, Mouttet, bezeichnen, welcher, getäuscht durch die dann von den Thatsachen in solch entsetzlicher Weise Lügen gestrafte Behauptung einheimischer Gelehrter, daß — obschon der Mont Pelée bereits eit mehreren Tagen in Thätigkeit war eine — ernste Gefahr nicht bestehe, die Einwohner von St. Pierre an dem rechtzeitigen Räumen der bedrohten Stadt verhinderte und dann selbst ein Opfer der Katastrophe wurde. Gleichzeitig mit der Eruption des Mont Pelée fanden auch auf andern Antilleninseln Vulcanausbrüche statt wvovon insbesondere jener des Mont Soufrière auf der britischen Insel St. Vincent zahlreiche Menschenleben forderte. Der Katastrophe auf Martinique sind in der christlichen Zeitrechnung nur drei durch Elementarereignisse verursachte Katastrophen an die Seite zu setzen: der Unter gang von Herculanum, Pompeji und Stabiä durch den berühmten, von Plinius dem Jün¬ geren in seinen Briefen in dramatisch=packender Weise geschilderten Vesuvausbruch vom 24. Au¬ gust 79 u. Chr. Geb., die fast gänzliche Zerstörung von Lissabon durch das Erdbeben am 1. No¬ vember 1755, welches über 30.000 Menschen das Leben kostete und die vulcanische Kata¬ strophe auf der in der Sundastraße befindlichen Krakatau=Insel in der Nacht vom 26. auf den 27. August 1883, welche einen auf 75.000 ge schätzten Verlust an Menschenleben herbeiführte. Der Einsturz des Campanile von St. Marco bildet eine wahre Kunstkatastrophe. Durch diesen Einsturz wurde das typische Bild einer der chönsten Städte der Welt vernichtet, und nicht nur das architektonische Wahrzeichen Venedigs, ondern auch das sichtbare Wahrzeichen der einstigen Beherrscherin der Meere zerstört. Auch bei dem Einsturze des Campanile von San Marco hat das verhängnisvolle laisser aller seine verderbliche Rolle gespielt. Der alte im Jahre 911 begonnene, 1178 vollendete, 98•6 Meter hohe Glockenthurm zeigte bereits seit langer Zeit bedenkliche Baugebrechen; die erste größere Erschütterung soll der Thurm be¬ reits vor mehr als einem Jahrhundert durch einen Blitzstrahl, welcher in die Loggia ein¬ schlug, erlitten haben. In neuerer Zeit zeigten ich neue bedenkliche Risse und Sprünge, die man nothdürftig für das Auge verkleisterte, ohne an eine ernste Erhaltungsarbeit zu gehen. Als dann in den letzten Tagen die schon seit langer Zeit ertönenden Warnungsstimmen immer kräftiger auftraten und man infolge dessen an eine eingehende Untersuchung des Campanile schreiten wollte, auf Grund deren dann die Er¬ haltungarbeiten vorgenommen werden sollten, war es bereits zu spät und so trat denn am 14. Juli die Katastrophe ein. Am Morgen dieses Tages bildete sich plötzlich unterhalb des Glocken¬ hauses eine Ausbauchung und der Helm des — Thurmes fieng zu schwanken an, dann es war um 9 Uhr 55 Minuten Morgens stürzte der Thurm unter donnerähnlichem Getöse in sich elbst zusammen, in seinem Sturze einen Theil der herrlichen Bibliothek — eines Prachtbaues Jakopo Tatti's, genannt Sansovino (1477 bis 1570) — mit sich reißend, unter seinem Schutte die Loggetta, ein ebenfalls von Jakopo Tatti (Sansovino) geschaffenes, köstliches Juwel der Architektur und Plastik, begrabend. Wohl wird an derselben Stelle in Bälde ein neues Ebenbild des alten Campanile er¬ stehen — denn die Unterlassung des Wieder¬ aufbaues kann nur poesielose Nüchternheit em¬ pfehlen und der Vorschlag des Professors Otto Wagner, den alten Marcusthurm durch einen „modernen“ Neubau zu ersetzen, kann nicht ernst genommen werden, würde sich ja ein secessio¬ nistischer Thurm inmitten der alten Prachtbauten des Marcusplatzes und der Piazetta ungefähr o ausnehmen, wie ein Kohlstrunk in einem Strauße herrlicher Centifolien — aber die Poesie des Alters, der Reiz der Echtheit werden ihm nimmer zu Eigen sein.
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