Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1903

die Silberscheide beleuchtete hell das Ron¬ dell zur Seite des Hauses und sie erkannte mit Entsetzen ihren Gatten und Rosalie, sie standen eifrig sprechend, und jetzt, jetzt o Schrecken — schlang Rosalie die Arme um den starken Mann, er drückte sie innig an sich, dann trennten sie sich, um in verschiedener Richtung im Hause zu verschwinden. Die Frau des Doctors war wie ge¬ lähmt, sie wollte schreien, sie konnte nicht, sie stand erstarrt, versteinert —. Jetzt kam Leben in sie; mit einem Satz war sie auf dem Fensterbrett, sie maß die Höhe, der Sprung mußte ihr das Leben kosten, das wollte sie; sie mochte nicht weiter leben es war zu entsetzlich, ein Leben ohne seine Liebe, verrathen, betrogen, nein, nein zehnmal lieber den Tod — sie holte aus, da — horch! ein leises Weinen schlug an ihr Ohr, es kam aus dem Nebenzimmer. Es war aus dem Schlafe erwacht und verlangte nach der Mutter. Ohne sich zu besinnen, sprang diese ins Zimmer zurück und lief zu Es, nahm das Kind aus der Wiege, schloß es zärtlich in die Arme und bedeckte das kleine, weinende Gesichtchen mit heißen Küssen. * * *5 Helles Kinderlachen erscholl aus der Kinderstube. Der Doctor öffnete leise die Thür, und ein liebliches Bild bot sich seinen Augen dar: seine Frau hatte Es auf dem Schoß und spielte mit dem Kinde „Katz' und Maus“, und allemal, wenn das Mäuschen das weiße Hälschen des Kindes krabbelte, jauchzte dasselbe vor Vergnügen laut auf und klatschte in die kleinen, dicken Händchen so lange, bis das Mäuschen wiederkam. Der Doctor lächelte und trat näher, erst jetzt hatte seine Frau sein Kommen bemerkt, er¬ schreckt blickte sie auf, das Auge, das eben noch so liebevoll und innig auf das Kind geschaut, wurde beim Erblicken des Gat¬ ten eiskalt, ein drohender Ausdruck lag jetzt in ihm, und als der Doctor die Hand ausstreckte, um sein Kind an sich zu ziehen, drehte sie sich mit einer Geberde des Ab¬ 61 scheus hastig um, indem sie ihren Arm wie schützend um Es legte, um das Kind vor einer Berührung mit dem Vater zu schützen. Nein, das war zu viel für den starken Mann. Dunkle Röthe schoß ihm ins Gesicht, die Zornesadern an den Schlafen dick geschwollen, wandte er ich empört an seine Frau: „Daß Du mich mit Deinen Launen quälst, ich verzeihe es Dir; ich habe es ertragen, weil ich mir sagte, daß Deine Gesundheit in letzter Zeit sehr erschüttert war. Daß Du aber versuchst, mir die Liebe des Kindes zu entziehen und mir dasselbe zu entfremden, das verzeihe ich Dir nicht. Wage es noch ferner zu thun da sollst Du mich kennen lernen. Es wird jetzt jeden Tag mit der Wärterin, wenn ich zu Hause bin, einige Stunden in meinem Arbeitscabinet verweilen; es soll Dir nicht gelingen, mir das Kind zu ent¬ fremden! Hast Du mich verstanden? Die Frau erhob stolz den Kopf, heraus¬ fordernd und trotzig sah sie ihren Mann an. „Und wenn ich nun nicht will?“ kam es wie hohnlachend über ihre Lippen. „Du wirst wollen!“ antwortete er fest. „Es ist die höchste Zeit, daß für Deine Gesundheit etwas geschieht“, fuhr er fort. „Deine Nervosität übersteigt alle Gren¬ zen. Ich habe schon nach N. geschrieben an den dortigen Arzt, einer Badecur wegen für Dich; ich warte nur noch auf Antwort, um alles Nähere zu bestimmen über Deine Abreise und Deine dort zu gebrauchende Cur. Du kommst dann hof¬ fentlich als eine Andere, als die Frühere zurück, als die ich Dich kennen und lieben gelernt.“ „Du kommst meinen Wünschen ent¬ gegen“, sagte sie. „Natürlich nur, wenn das Kind mit mir geht, ohne Es reise ich nicht, dann aber gern und vielleicht — für immer“, fügte sie mit leiser, tonloser Stimme hinzu. „Elisabeth!“ kam es von seinen Lippen. Er trat dicht an sie heran, bog ihren Kopf zurück und sah ihr tief und lange in die Augen, mit dem forschenden, lieben¬ den Blick des Arztes und des Gatten, und

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