60 zuckte sie, wie von einer Natter gestochen, zusammen, der Doctor sah unverwandt, mit großen, leuchtenden Augen, nicht auf sein Kind, nein, auf Rosalie, die, mag¬ netisch angezogen, jetzt das dunkle Auge hob. Die Beiden sahen sich an, ein Blick des Einverständnisses flog von Einem zum Andern, ein Lächeln, ein Nicken, ein Erröthen ihrerseits, seine Blicke redeten aber auch eine zu deutliche Sprache der Bewunderung. Nicht Minuten zählte diese kleine Scene, wohl Niemand hatte sie bemerkt, nur die junge Mutter, die Gat¬ tin, und ihr war es wie ein Stich durch's Herz gegangen, doch sie hatte nicht Zeit sich langen Betrachtungen hinzugeben man kam und gratulirte ihr, sie wurde umdrängt, sie mußte liebenswürdig sein lächeln, wo sie vor innerer Qual hätte schreien mögen. Jetzt nahte er, ihr Gatte, umfing sie, um sie zu küssen, nein, das war zu viel. „Lass’ mich“, kam es zwischen ihren Zähnen hervor; sie stieß ihn von sich und ging ins andere Zimmer, wäh¬ rend er, nicht wissend, wie ihm geschah, ihr verdutzt nachblickte. Dunkle Wolken jagten am Himmel, der Tag war heiß gewesen, gegen Abend hatte sich ein heftiges Gewitter entladen, und jetzt war es kühl und unfreundlich geworden. Am offenen Fenster lehnte die Frau des Doctors, sie fühlte nicht den kalten Luftzug, der nach dem heißen Tag besonders empfindlich berühren mußte ihre Wangen glühten, sie dachte an das heut' Erlebte. Und es war doch keine Täuschung gewesen, die Blicke, das Er¬ röthen, nein, nein, so sehr sie sich's auch einreden wollte, nein, es war keine Täu¬ schung gewesen! Sie stöhnte, sie fühlte, ihr Glück war zerstört für immer, eine Natur wie die ihrige konnte keine Untreue ertragen, sie würde daran zugrunde gehen, das wußte sie, und den Falschen zur Rede stellen, nein, das konnte sie nicht, sie brachte es nicht über die Lippen, ihre stolze Natur bäumte sich dagegen auf, und er, was würde er sagen? Einfach, daß sie sich getäuscht, daß er sie, nur sie liebe und stets geliebt habe, all' diese schönen Redensarten, die sie nach dem, was sie gesehen, nimmer glauben konnte, nimmer glauben mochte. Und Rosalie? Die Falsche, Scheinheilige, wie wußte sie die Unbefangene zu spielen, seit einigen Tagen war sie bei ihnen, da konnte es nicht angefangen haben, es mußte also von früher her bestehen. Sie ließ die Zeit ihrer Verlobung an ihrem inneren Auge vorbeiziehen. In einem Badeort hatten sie sich kennen gelernt. Sie war die reiche, vielumworbene Tochter eines Guts¬ besitzers, sie konnte sich zu keiner Partie entschließen, immer verfolgte sie der Arg¬ wohn, man wolle nicht sie, mit dem Gelde als Zugabe, sondern das Geld mit ihr als Zugabe. So war sie 26 geworden, in ihren Augen schon eine alte Jungfer da kam er, und mit dem Werben um sie sielen alle ihre Bedenken wie ein Karten¬ haus zusammen, sie erblickte in ihm ihr Ideal, diese feine, vornehme Statur hatte es ihr angethan, und als er um sie anhielt, sagte sie mit Freuden ja, ihm glaubte sie, daß er sie liebe und wolle, wie sie war, mit ihren Fehlern, mit ihren Vorzügen. So waren sie seit einem Jahre verheiratet und die Geburt von Es hatte, trotzdem es nicht der erhoffte Junge gewesen, ihr Glück auf den Höhepunkt erhoben. Nun war es wie Mehlthau auf dieses junge Glück gefallen. Sie dachte und dachte wie lange sie schon stand, sie wußte es nicht. Der Wind hatte sich gelegt, ein feiner Regen rieselte hernieder, das ein¬ zige Geräusch, in der offenen Nebenstube schlief Es, die Wärterin war in der Küche. Plötzlich hörte sie Stimmen. Wer konnte es sein? Ihr Gatte war nach aus¬ wärts zu Kranken gerufen worden und Rosalie hatte sich auf ihr Zimmer zurück¬ gezogen, unter dem Vorwand, ihre Sachen zu packen, da sie morgen abreisen wollte. Die Stimmen kamen näher — weit bog sie sich vor, um zu sehen, um zu hören, sie konnte nichts verstehen. Warum fühlte sie sich von solch' innerer Angst gepackt? Das Herz schlug ihr zum Ersticken, kalter Schweiß bedeckte ihre Stirne. Jetzt riß die dunkle Wolke, die den Mond verdeckte,
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