Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1902

80 Concil zog er sich den Haß der Ultramontanen zu, um welche sich nun die ganze Oppositior gruppirte. Nachdem die Ultramontanen nach zweimaligen Neuwahlen endlich eine, wenn auch nur wenige Stimmen zählende Majorität in der Kammer erhalten und dem Ministerpräsidenten im März 1870 ein ausdrückliches Mißtrauens¬ votum ertheilt hatten, trat Fürst Hohenlohe zu¬ rück. 1874 wurde Fürst Hohenlohe Botschafter des Deutschen Reiches in Paris und im Juli 1885 Statthalter von Elsaß=Lothringen. Nach dem Sturze Caprivi's wurde Fürst Hohenlohe am 29. October 1894 zum Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten ernannt, um dann wie erwähnt, am 18. October 1960 in den Ruhe¬ stand zu treten Der Nachfolger Hohenlohe's im Reichs¬ kanzleramte, Graf Bernhard v. Bülow am Mai 1849 in Klein=Flottbeck (Schleswig¬ 9. Holstein) geboren, wurde im Sommer 1897 mit der Stellvertretung des Staatssecretärs Freiherrn von Marschall betraut und im October 1897 zum Staatssecretär ernannt Am 22. Juni 1899 wurde er nach dem Ab¬ schlusse des Vertrages mit Spanien über die Abtretung der Marianen und Carolinen an Deutschland in den Grafenstand erhoben. Graf Bülow erwies sich als ein vorzüglicher Redner und Debatter. Am 1. October 1900 trat die neue deutsche Militär=Strafgerichtsordnung für das gesammt deutsche Heer in Kraft. Dieselbe fußt auf dem Principe der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit des Verfahrens; die Hauptverhandlung vor dem Militärgerichte ist öffentlich. Der Angeklagte kann sich — bis auf gewisse Theile des Verfahrens — des Beistandes eines Vertheidigers bedienen; es muß ihm ein solcher beigegeben werden wenn ihm ein Verbrechen zur Last gelegt wird. Die Ein¬ berufung von Kriegsgerichten von Fall zu Fall entfällt. Nicht ohne Neid darf man in Oesterreich auf diese im Deutschen Reich durchgeführte Reform blicken, denn die Reformbedürftigkeit auch unseres Militärstrafprocesses steht bei allen modern Denkenden längst außer Frage Am 10. Juli 1900 haben sich das Deutsche Reich und die amerikanische Union über eine Handels¬ convention auf dem Principe der Meistbegün¬ stigung geeint. Dagegen droht die über Drängen der Agrarier beabsichtigte Getreidezollerhöhung (sammt Doppeltarifsystem) seitens des Deutschen Reiches schwere Complicationen mit den handels¬ befreundeten Staaten herbeizuführen. Rußland chickte sich zuerst zu empfindlichen Repressiv¬ maßregeln an und stellte unter Anderem Be¬ stellungen der Regierung nach Deutschland ein. Auch im Reiche selbst wurden seitens der Großstädte und der bedrohten Erwerbsschichten vielfache geharnischte Proteste und Resolutionen gegen die beabsichtigte Getreidezollerhöhung gefaßt. Wie im Deutschen Reiche das chinesische Abenteuer zu einer Reichskanzlerkrise, so führte in Preußen — welches am 18. Jänner 1901 den 200. Jahrestag des Eintrittes des preußischen Königthums in die Geschichte feierlich begehen die Canalvorlage zu einer Minister¬ konnte — krise. Die dem preußischen Abgeordnetenhaus¬ am 12. Jänner 1901 zugegangene neue Canal vorlage, welche eine Erweiterung der ursprüng lichen Canalvorlage insofern bedeutete, als auch die Wasserstraßenverhältnisse im Osten verbessert werden sollen, hatte die Obstruction der ver¬ wach¬ bündeten Agrarier und Conservativen wischen gerufen, welche eine Art Junctim chaffen Getreidezollerhöhung und Canalvorlage genehm wollten, das wieder der Regierung nicht war. Die Obstruction der Conservativen äußerte sich in einer raffinirten Art Verschleppungs¬ volitik in den Berathungen der Canalcommission Da die Opposition, resp. Obstruction der Agrarier und Conservativen nicht zu brechen war, so entschloß sich das Ministerium Bülow zu einem energischen Schritte, indem eine am 3. Mai 1901 in gemeinsamer Sitzung beider Häuser des preußischen Landtages verlesene kaiser¬ liche Botschaft die Sitzungsperiode des Landtages für geschlossen erklärse. Eine weitere Folge der eingetretenen Krise war die Demission des Finanzministers Miquel, des Handelsministers Brefeld und des Landwirthschaftsministers Freiherr v. Hammerstein=Loxtau, welche vom Kaiser sofort angenommen wurde. Das Finanzportefeuille ging bei der durch diese Demissionen nothwendig gewordenen Ergänzung des Cabinetes Bülow, auf den bisherigen Minister des Innern v. Rheinbaben über an dessen Stelle Freiherr v. Hammer¬ stein=Metz trat; das Landwirthschaftsmini¬ terium wurde Herrn v. Podbielski, das Handelsministerium dem Großindustriellen Herrn aus Möller anvertraut. Mit Miquel schied der dem preußischen Ministerium ein Mann das vohl das preußische Steuerwesen auf Glücklichste reformirt, der sich aber als kein ester politischer Charakter bewährt hatte, indem er vom liberalen Frankfurter Ober¬ Bürgermeister zum Gönner und Protector der Agrarier und Conservativen wurde, und als olcher mit zu der Opposition dieser Elemente jegen die Canalvorlage beitrug. Als bezeichnend für die zukünftige agrar= und handelspolitische Richtung Preußens, respective des Deutschen Reiches sah man die Ernennung des national¬ liberalen Abgeordneten und Großindustriellen Möller (Dortmund), eines Mitkämpfers für da an, die Canalvorlage, zum Handelsminister dieser Name wohl ein offenes Programm, nämlich den Abschluß langfristiger Handelsverträge bei maßvollem und verständigem Schutze der natio¬ nalen und landwirthschaftlichen Arbeit bedeuten sollte.

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