Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1902

68 Mährens, anzuvertrauen. Zum ersten Vice¬ präsidenten wurde dann das Mitglied der Deutschen Volkspartei Abgeordneter Prade und zum zweiten Vicepräsidenten ein Mitglied des Jungtschechen=Clubs, Abgeordneter Dr. Zacek gewählt. Ein weiterer Conflictstoff, den wieder die Tschechen auf die Tagesordnung brachten war in dem Einfalle der letzteren gegeben Interpellationen in tschechischer Sprache einzu¬ bringen, doch auch dieser Conflictstoff wurde endlich im Wege der Verhandlung und der dilatorischen Behandlung beseitigt, nachdem er zu aber noch in der Sitzung vom 20. Februar einer heftigen Sturmscene im Abgeordnetenhause geführt hatte, zu welcher sich die Tschechen des¬ halb veranlaßt sahen, weil der Präsident eine provisorische Entscheidung dahin getroffen hatte, daß Interpellationen zwar in der Muttersprache der betreffenden Abgeordneten eingebracht werden dürfen, daß aber rasch eine authentische Ueber¬ setzung ins Deutsche gemacht, diese Uebersetzung ins Protokoll aufgenommen und nur auf Wunsch des Interpellanten auch das anderssprachige Schriftstück beigefügt werde, und an welcher Sturmscene sich auch die Mitglieder der „All¬ deutschen Vereinigung“ betheiligten, weil der Präsident für sich das Recht in Anspruch nahm beleidigende Ausdrücke in Interpellationen bean ständen und derartige Schriftstücke zurückhalten zu dürfen, bis sie eine Art Vorcontrole im Hause passirt haben, eine Anschauung, gegen welche die Alldeutschen schließlich auch mit Erfolg an¬ kämpften. Ihren Willen durchzusetzen, hatten es die Tschechen sogar mit der Obstruction versucht und die Regierung schien geneigt, mit den Ob¬ struenten in Unterhandlungen zu treten, als die energische Stellungnahme der deutschen Parteien der Wiederaufnahme des Systems, über die Köpfe der Deutschen hinweg Verhandlungen mit den Tschechen zu pflegen, ein Ende be¬ reitete und so langsam aber entschieden den Boden zu ersprießlicher Arbeit im Abgeordnetenhause ebnete. Ein erstes Anzeichen dafür, daß auch bei den momentan desolaten Verhältnissen im Abgeordnetenhause eine solche Arbeit vielleicht denn doch möglich sei, war die Schaffung einer Art Waffenstillstand bis Ostern, welcher im Weg eines Compromisses erzielt wurde, und die Mög¬ lichkeit gewährte, daß am 5. März mit der ersten Lesung einer Reihe wichtiger Gesetzesvorlager der Regierung begonnen werden konnte: das Recrutengesetz, die Branntweinsteuervorlage (die, in den Landtagen zu Fall gebracht, nun den richtigen Weg in den Reichsrath gefunden hatte) und die Investitionen. Die Investitionsvorlag war von der Regierung in der Sitzung vom 12. Februar im Abgeordnetenhause eingebracht worden, sie betraf die Herstellung mehrerer Eisenbahnen auf Staatskosten und die Fest¬ stellung eines Bau= und Investitionspräliminares der Staatseisenbahnverwaltung für die Zeit bis ge¬ Ende des Jahres 1905. Die in Aussicht die die Tauernbahn, nommenen Linien waren Karawankenbahn, die Eisenbahn Lemberg Sambor, die Pyhrnbahn, die Eisenbahn Ra¬ —Laun, die Eisenbahn Hartberg—Fried¬ onitz berg. Die Baukosten der neuen Linien waren mit 241 Millionen veranschlagt; für Localbahnen wurden 15½ Millionen, für Localbahnsubven¬ tionen 13½ Millionen, für Ausgestaltung des bestehenden Staatsbahnnetzes 272 Millionen beansprucht, welche Posten insgesammt durch Ausgabe von Investitions= oder Kronenrent beschafft werden sollten. Eine Parallelvorlage zu diesem Gesetzentwurfe war die am 26. Apri im Abgeordnetenhause durch die Regierung ein¬ gebrachte Canalvorlage. In derselben war der Bau von vier Canälen vorgesehen, und zwar: 1. der Bau eines Schifffahrtscanals von der Donau bis zur Oder; 2. der Bau eines Schiff¬ fahrtscanals von der Donau zur Moldau bis Budweis nebst Canalisirung der Moldau von Budweis bis Prag; 3. der Bau eines Schiff¬ fahrtscanals von der Donau bis zur Oder und eines Canals Donau—Moldau— Elbe bis Melnik und 4. der Bau eines Schifffahrts¬ canals Weichsel — Dniester. Die Bedeutung dieser beiden Vorlagen für das gesammte Verkehrswesen der Monarchie war es, die schließlich die bereits durch den oben erwähnten Waffenstillstand bekundete Ar¬ beitswilligkeit des Abgeordnetenhauses zu einer wirklichen Arbeitsfähigkeit desselben umgestal¬ tete. Zum ersten Male nach langer Zeit kam es nun zu einem einträchtigen gemeinschaftlichen parlamentarischen Zusammenarbeiten der Deut¬ chen und der Tschechen, zu friedlicher Auf¬ tellung von Arbeitsprogrammen, zu einstim migen Annahmen von Vorlagen nach eventueller einverständlicher Amendirung derselben. Und als der Reichsrath am 11. Juni vertagt wurde, hatte das Abgeordnetenhaus ein stattliches Ar¬ beitspensum erledigt, darunter das Investitions gesetz, die Canalvorlage, das Branntweinsteuer¬ gesetz, das Budgetprovisorium, die Localbahn¬ vorlage. Auch die Wahl eines 48gliedrigen Ausgleichsausschusses wurde vollzogen. Welche Bedeutung die Regierung auf die rasche Ausführung der durch das Investitions¬ gesetz gesicherten Bahnbauten legt, beweist wohl am besten der Umstand, daß nach der am 6. Juni erfolgten Sanction dieses Gesetzes jene der Canalvorlage wurde am 13. Juni bereits am 20. Juni das Inve¬ publicirt — stitionsanlehen in einem Theilbetrage per 125,000.000 Kronen zur Zeichnung aufgelegt werden konnte (es wurde dreifach überzeichnet und am 21. Juni in der Station Bärngraben der erste Spatenstich an der Karawankenbahn respective dem Karawankentunnel, am 23. Juni der erste Spatenstich an der Pyhrnbahn, respec¬ tive am Pyhrntunnel bei Spital am Pyhrn und am 24. Juni der erste Spatenstich an der

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