Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1901

94 Staatsstreich an die Spitze der Regierung, bis im Juni (10.) 1900 Prinz Tuan an die Stelle Tsching's berufen wurde und so an die Spitze des Tsungli=Yamen und der Armee gelangte. Inzwischen waren, wohl mit Einverständniß der Regierung, in verschiedenen Orten des Reiches Gewaltthaten gegen die Fremden verübt worden und die Bewegung der Boxer, einer fremdenfeindlichen und gewaltthätig vorgehenden geheimen Gesellschaft, nahm nunmehr überhand, so daß sich schließlich die Gesandten in Peking — welchen die Verbindung zwischen Prinz Tuan und der von ihm zweifellos ge leiteten und unterstützten Boxerbewegung nicht klar geworden zu sein scheint, und welche sich von der Regierung in Peking immer wieder — beschwichtigen ließen veranlaßt sahen, bei ihren Mächten um Beistellung von Schutztruppen einzuschreiten. Nun sollte sofort die Stellung der chinesischen Regierung gegen die Großmächte klar — werden man verweigerte zunächst den be¬ gehrten Schutzdetachements den Einlaß in Peking und erst als genügende chinesische Truppen in und um Peking concentrirt waren, öffnete man diesen Detachements die Pforten der Stadt, in welcher sie nun gleich jenen, die sie beschützen ollten, als Gefangene eingeschlossen waren. Als ich die Großmächte allmälig über die Situation klar geworden und sich bei Taku eine ansehnlich nternationale Flotte angesammelt hatte, richteten die Commandanten der solidarisch vorgehenden Flottencontingente am 16. Juni ein Ultimatum an den Befehlshaber von Taku, bis Sonntag den 17., Morgens 2 Uhr, die Forts zu übergeben, widrigens dieselben von der vereinigten Flotte beschossen werden würden. Man wollte sich damit die Erlaubniß, die Forts von Taku zu passiren, erzwingen. Eine Stunde vor Ablauf des Ulti¬ matums eröffneten die Forts in der Nacht von 17. Juni ein mörderisches Feuer auf die in der Bucht ankernden Schiffe, die sofort das Feuer erwiderten und Truppen landeten, welche, nach dem man die Forts zum Schweigen gebracht, dieselben erstürmten. Admiral Seymour, welcher zur Unterstützung der in Peking befind¬ lichen internationalen Truppendetachements ar der Spitze eines größeren internationalen Corps gegen die Hauptstadt marschirte, wurde vor Boxern und regulären Truppen der Chinesen auf halbem Wege umzingelt und mußte froh sein ich dieser Umarmung mit Hilfe der ihm aus Tientsin gesandten Unterstützungen mit Gewalt entziehen und halbwegs heil mit seinen Truppen nach Tientsin zurückkehren zu können, welches inzwischen von regulären chinesischen Truppen belagert und beschossen wurde, so daß auch hier mit Waffengewalt und unter Hilfeleistung von Truppen aus Taku die fremden Unterthanen geschützt werden mußten. Der kampfreiche Rückzug Seymour's bildet wohl ein modernes Seitenstück des Rückzuges der 10.000 Griechen unter Xenophon. Unterdessen verbreitete sich der Aufstand der Boxer immer mehr, Metzeleien, Plünderungen der Fremdenstationen, Mord und Todtschlag, Zer¬ störung der Eisenbahnen standen an der Tages¬ ordnung; die Großmächte trafen Veranstaltungen ihre Schiffe und Landungstruppen in Taku zu ver¬ tärken, konnten sich aber trotz der im Verzuge liegenden Gefahr nicht dahin einigen, das zu¬ nächstliegende Japan mit der Mission zu be¬ — trauen, endlich mit großer Truppenmacht Ordnung zu schaffen. Während diese Verhandlungen im Gange waren, drang zunächst aus Peking die Nachricht, daß die fremden Gesandtschaften — von der chinesischen Regierung nicht beschützt den Folgen eines Sturmes des Pöbels am 13. Juni 1900 nur durch Waffengewalt ent¬ gangen seien, indem speciell durch eine öster¬ reichische Maximkanone der Sturm abgeschlagen wurde; dann folgte das Gerücht von der am 18. Juni erfolgten Ermordung des deutschen Gesandten Freiherr v. Ketteler, welches leider auch seine Bestätigung fand. Weitere, später ebenfalls bestätigte Meldungen brachten Kunde von der Zerstörung fast aller fremden Gesandt¬ schaftshotels; dann meldete das Gerücht die Er¬ mordung des englischen und französischen Ge¬ andten, sowie die Niedermetzelung der in der englischen Gesandtschaft vereinigten Fremden und der übrigen Gesandten, schließlich die Ge¬ angennahme der Kaiserin=Witwe, ihrer Ver¬ trauten und des abgedankten Kaisers und deren Vergiftung, erzwungen durch den Prinzen Tuan, der so nachdem er den Boxeraufstand organisirt, die Regierungszügel in die Hand genommen die Kämpfe der regulären Truppen gegen die remden Contingente geleitet, nun selbst als Vater des unmündigen neuen Kaisers die oberste Macht in China an sich gerissen hätte. Der Kaiser und die Kaiserin=Witwe sollen durch Prinz Tuan gezwungen worden sein, übergroße Dosen Opium zu nehmen. Der Kaiser wäre todt, die Kaiserin¬ Witwe wahnsinnig geworden. Nachträglich wieder hieß es, daß in Peking eine vom Prinzen Tsching geführte Gegenrevolution ausgebrochen sei, daß der Kaiser und die Kaiserin=Witwe un¬ verletzt seien, daß Li=Hung=Tschang, der ge¬ wiegteste Staatsmann des Reiches der Mitte, nach Peking berufen wurde, um die Vermitt¬ lung mit den Großmächten zu übernehmen, daß er jedoch diesem Rufe nicht folgen wolle u. s. f. Wie viel von allen diesen Gerüchten auf Wahr¬ eit beruht, war bis zur Drucklegung dieses Berichtes nicht festgestellt. Sicher ist nur das Eine, daß an eine Action der Großmächte, denen auch Japan und die Vereinigten Staaten zur Seite stehen, gegen Peking so bald nicht zu denken ist, und daß damit der Untergang der Fremden dortselbst besiegelt ist Die revidirten Verträge, wonach Japan allen Völkern des Westens geöffnet wird, traten am 17. Juli 1899 in Kraft. Im Monate Mai and in Tokio die Vermählung des japanischen Thronfolgers statt.

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