72 infolge der immer vehementer auftretenden tschechischen Obstructionsgelüste, welche sich ins besondere gegen die wirthschaftlichen Vorlagen der Regierung richteten. Nachdem das Abge¬ ordnetenhaus das von den Tschechen aus der Obstruction ausgeschaltete Beamtengesetz votirt und die Delegationswahlen vorgenommen hatte, wurde der Reichsrath Mitte März verabschiedet um den Landtagen Gelegenheit zu geben, an ihre Arbeit zu gehen. Die Tagung der letzteren (die Deutschen waren bereits in der December¬ Session des böhmischen Landtages wieder in demselben erschienen) wurde am 5. Mai 1900 geschlossen, und der Reichsrath für den 8., die Delegationen aber für den 12. Mai inberufen Gleich in der ersten Sitzung des wieder zusam¬ mengetretenen Abgeordnetenhauses brachte die Regierung drei Gesetzentwürfe ein, wvelche der Zweck haben sollten, den nationalen Frieden in Böhmen und wohl auch in Mähren wieder her¬ zustellen: sie betrafen die Regelung der sprach¬ lichen Verhältnisse bei den landesfürstlichen Behörden in Böhmen und Mähren und die Errichtung von Kreisregierungen in Böhmen, und wenn diese Entwürfe auch keineswegs alle be¬ rechtigten Wünsche der Deutschen erfüllten, so waren sie doch zweifellos darnach angethan, eine geeignete Unterlage zu Verhandlungen zu bieten, welche bei gegenseitigem guten Willen beider zunächst in Frage kommenden Parteien zu einer Verständi¬ gung hätten führen können. Dies war aber nicht nach dem Geschmacke der Tschechen, welche, ohne Rücksicht auf die Interessen des Reiches, ihres eigenen Landes und ihrer Wähler selbst, wieder das alte Steckenpferd des Verlangens nach der internen tschechischen Amtssprache zu reiten be¬ gannen und zur Durchsetzung ihres Willens zu einer Obstruction griffen, welche zu einer fast vollständigen Lähmung der parlamentarischen Thätigkeit führte und schließlich so turbulent wurde, daß sie zu einer Sprengung des eisernen Ringes der bisherigen Majorität führte, indem sich die Polen, die Rumänen und die katholische Volkspartei von den Tschechen lossagten und mit den deutschen Oppositionsparteien in Ver¬ bindung traten, um zur Niederringung der durch kein vitales Interesse seiner Wähler begründeten Obstruction des Tschechenclubs und zur Ermög¬ lichung einer regelrechten parlamentarischen Arbeit, eine sogenannte Tagesordnungs=Majorität zu bilden. Die diesfälligen Verhandlungen konnten trotz ihres erfolgreichen Verlaufes zu keinem praktisch greifbaren Resultate führen, weil die Regierung angesichts der immer wüster auftre¬ tenden tschechischen Obstruction, und um dem durch dieselbe herbeigeführten parlamentarischen Sean¬ dal, der bereits in Thätlichkeiten auszuarten begann ein möglichst rasches Ende zu bereiten, sich ent chloß, bei Sr. Majestät die Schließung der Reichsrathssession zu beantragen, welche denn auch in der Nacht vom 8. auf den 9. Juni 1900 nachdem neue Stürme das Abgeordnetenhaus durchtobt hatten, um 12 Uhr 20 Minuten er¬ olgte. Welchen Weg nunmehr das Ministerium einschlagen wird, um die innerpolitischen Wirren Oesterreichs zu beseitigen, und so dem Vater¬ lande den lang entbehrten inneren Frieden wieder zurückzugeben, ohne welchen auch an eine ge¬ deihliche, wirthschaftliche Entwicklung nicht zu denken, ist bis zum Schlusse unserer Berichts¬ periode in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt geblieben. Wenden wir unsere Blicke von dem Ge¬ ammtreiche ab, um sie auf die Zustände in der Metropole desselben zu lenken, so haben wir auch hier kaum Erfreuliches zu melden. Nach¬ dem die vom niederösterreichischen Landtage am 27. Mai 1899 beschlossene neue Wahlordnung nebst Gemeindestatut) für Wien die kaiserliche Sanction nicht erhalten hatte, wurde der nieder¬ österreichische Landtag zur Berathung und Be¬ schlußfassung über die von der Regierung diesfalls geforderten Abänderungen auf den 20. Februar 1900 einberufen. Diese Abänderungen waren geeignet, einige der wichtigsten Bedenken gegen die vom Landtage beschlossene Wahlordnung zu beseitigen, ohne jedoch der aus parteipolitischen Gründen im Gesetze eingeführten Wahlgeometrie ein Paroli zu bieten. Auf Grund des Berichtes des Wahlreformausschusses über die vom Landes¬ ausschusse vorgelegte revidirte Wahlordnung nebst Gemeindestatut) für die Reichshauptstadt Wien, gelangte nun der Landtag zu einem Be¬ schlusse, welcher, obwohl er keineswegs in allen Punkten den Abänderungsvorschlägen der Re¬ ierung entsprach, doch am 24. März 1900 die kaiserliche Sanction erhielt. Dies führte dazu, daß fast alle dem fortschrittlichen Parteiverbande des Wiener Gemeinderathes angehörigen Mit¬ glieder des letzteren ihre Mandate niederlegten, weil sie der Ansicht waren, daß, abgesehen von allen übrigen Bedenken gegen die neue Wahlordnung, die Vornahme von Neuwahlen für den gesammten Gemeinderath eine unumgängliche Folge der neuen Situation bilden müsse, und sie das Ihrige dazu beitragen wollten, diese allgemeinen Neuwahlen herbeizuführen. Der so präcisirte Zweck des Massenaustrittes aus dem Wiener Gemeinde¬ rathe wurde nicht erreicht und im Mai 1900 nur theilweise Neuwahlen für den Wiener Ge¬ meind rath durchgeführt, welche infolge der par¬ teimäßigen Construction der neuen Wahlordnung und der in derselben eingeführten Wahlgeometrie eine förmliche Decimirung der fortschrittlichen Partei im Gemeinderathe und die unbeschränkte Herrschaft der christlich=socialen Partei in dem¬ elben zur Folge hatten. Die deutsch=nationale Gruppe ist aus der Stadtvertretung Wiens ganz verschwunden. Der completirte Gemeinderath ernannte den Bürgermeister Dr. Lueger zum Ehrenbürger und wählte den Gemeinderath Strobach, dessen Amtsdauer als erster Vice¬ bürgermeister am 27. April 1900 erloschen war, neuerdings zum ersten Vicebürgermeister.
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