58 endlich die telegraphische Botschaft und ging dann unter erneuter Versicherung seiner Theilnahme seiner Wege. Daheim gab man sich wenig genug mit Schreiben, mit Telegraphiren aber — eine Depesche konnte gar nie ab nur Schlimmes bringen. Zitternd ent¬ faltete sie Clara und las die Worte: „Komme sogleich, die Mutter krank! * *5 * Wir erleben Tage in der Schule des Lebens, an welchen wir — so scheint es uns — der Ruthenstreiche allzuviele aus¬ zuhalten müssen. Ein solcher Tag war für Clara mit dem herrlichen Sommer¬ morgen angebrochen, den sie im Garten zuzubringen beabsichtigte. Das muntere Zwitschern der Vögel, dem sie vor Kurzem noch mit Vergnügen gelauscht, klang hrem jungen, gequälten Herzen nun wie ein greller Mißton. Wie konnten die kleinen Sänger jubeln, wenn vielleicht ihre Mutter im Sterben lag! Ein Räthsel schien 's ihr jetzt, wie sie mit all' ihrer Liebe für die Mutter im Herzen, frei¬ willig, ohne zwingende Nothwendigkeit von ihr hatte fortgehen können. Trug nicht die angestrengtere Arbeit, die ihr in Abwesenheit der Tochter zufiel, viel¬ leicht theilweise die Schuld an ihrer schweren Erkrankung? Der neue größere Schmerz und die damit verbundene Erregung gaben Clara den Muth, ehe sie ihre Habe in Eile zusammenpackte, ihre Herrin aufzusuchen und ihr mit einer gewissen Würde zu erklären, sie reise heute noch ab, wei ihre arme Mutter schwer krank sei, nicht aber, weil sie im Gefühle der Schuld das Haus zu verlassen wünsche. Der Verdacht gegen sie sei ein gänzlich unbegründeter, und das Gedicht des jungen Herrn habe ie zum ersten Mal zu Gesicht bekommen, als sie es in Frau Mirus' Hand er¬ blickte. Das Leid, welches so unverkennbar aus des Mädchens Zügen sprach, rührte die Dame, und obschon sie von ihrer Unschuld keineswegs überzeugt war, sagte ie doch freundlich zu Clara: „Da Sie nun ohnehin gehen müssen braucht Niemand hier einen andern Grund ür Ihre Abreise zu erfahren, als den Krankheitsfall in Ihrer Familie. Es soll mich freuen, wenn es mit Ihrer Mutter nicht so schlimm steht, als Sie zu fürchten cheinen.“ Frau Mirus sorgte auch dafür, daß für das Mädchen, welches die ganze Nacht durch mit dem Schnellzug reisen mußte, Proviant zurecht gemacht wurde. Damit glaubte sie ihrer Pflicht über¬ reichlich genügt zu haben. Frau Mirus uchte stets gerecht zu sein und fühlte sich stolz auf diese Eigenschaft, wie sie es auf manches Andere war. Dieser Stolz, mit einer angeborenen Härte gepaart, gab ihr ein gewisses Ansehen, und hielt die Leute in einiger Entfernung von ihr. In der eigenen Familie übte sie stets strenge Justiz; Worte der Liebe aber zählten zu den größten Seltenheiten. Noch hatte sie heute des Sohnes nicht habhaft werden können, um ihn zur Rede zu stellen; doch wird die Stunde der Zurechtweisung für ihn ebenso wohl schlagen, als für die chuldlose Stütze. Letztere trug der nächtliche Bahnzug, keuchend und in undurchdringliche Rauch¬ wolken gehüllt, der Heimat entgegen. Seit Monaten hatte Clara sich innerlich nach der Mutter gesehnt; jetzt war das Wiedersehen ganz nahe gerückt und vielleicht auch die Trennung hienieden. Früh Morgens am K.'schen Bahn¬ hofe angelangt, schaute sie ängstlich zum Fenster des Waggons hinaus, um den Vater, der sie wohl abholen würde, zu — erspähen ... Niemand war da! Doch dort etwas abseits stand der Milchwagen, mit dem der Vater täglich zum Städtchen fuhr; er selbst aber fehlte und ein junger Mann, der halb verlegen, halb neugierig nach ihr herüberschielte, stand beim Pferde. Einen Augenblick war die Sorgenlast wie weggewälzt von Clara's Herzen, das stürmisch bei dem Gedanken pochte, Johann habe sie doch nicht vergessen. Würde er
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