Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1901

56 „Muß es denn jetzt sein?“ fragte Clara etwas ungeduldig. „Sie haben es ja recht eilig, in den Garten zu kommen,“ versetzte boshaft das kecke Zimmermädchen, welches den Stützen“ nicht hold war und sich der Vertreterin dieser Classe hier im Hause vonAnfang an feindselig gezeigt hatte. „Was meinen Sie damit?“ fragte unbefangen Clara. Das werden Sie am besten selbst wissen,“ lachte das Mädchen. — „Nun, fügte sie auf den fragenden Blick Clara's bei, „dem jungen Herrn pressirt's jeden Morgen auch gar sehr, bis er in den Garten kommt! Feuriges Roth überflog Clara's Wangen bei der ungerechten Anschul¬ digung, und der Aerger trieb ihr Thränen in die Augen. Es fehlte ihr an Erfah¬ rung und Gewandtheit, das Mädchen zurechtzuweisen, und mit einem entrü¬ teten Blick auf dasselbe stürmte sie rasch an ihm vorüber, die Treppe hinunter, bei sich überlegend, ob sie im Garten weiter arbeiten oder ihren Korb von dort heraufholen sollte. Das hieß doch feige der Verleumdung das Feld räumen! Die Röthe und sonstigen Spuren der Bestürzung sind noch nicht aus ihrem Gesichte gewichen, als sie den Garten betritt, welchen der junge Mann in¬ zwischen glücklicherweise verlassen hatte. Doch, o wehl in der Laube wird sie nicht allein sein, um ihre Fassung wieder gewinnen zu können; schon von Weitem schimmerte ihr das helle Morgen¬ kleid der gnädigen Frau aus derselben entgegen. Und wie sie näher kommt, be¬ merkt sie, daß das sonst so blasse Ge¬ sicht der Dame an Farbe dem ihrigen wenig nachsteht. Sie hat den Kopf mit einer Hand gestützt, in der anderen hält sie ein eng beschriebenes Blättchen Papier, auf das sie spöttisch hinstarrt. Bangen Herzens nimmt Clara ihre Arbeit vom Tische auf und fragt, ob sie die Spitzen in entsprechender Weise an der Taille eingenäht habe? „Das ist Nebensache!“ lautet die höchst gereizte Antwort. (In solchem Tone hatte Frau Mirus nie zuvor mit ihr gesprochen.) „Ich möcht' vor Allem wissen,“ fährt sie ebenso fort, „ob schon öfters solche poetische Ergüsse an Sie gerichtet worden sind?" Mit diesen Worten chleudert sie das Blättchen über den Tisch herüber. „Ich weiß nicht, was Sie damit agen wollen, entgegnete Clara, indem ie wie im Traume die geschriebenen Worte überfliegt — Worte der Liebe, in weifelhafte Verse gezwängt— offenbar u den Erstlingsversuchen einer jugend¬ lichen Phantasie zählend. „Es ist eigenthümlich genug, wenn Ihnen der Inhalt des eigenen Arbeits¬ korbes fremd sein sollte. Ich fand dieses gefühlvolle Geschreibsel, welches wohl nicht das erste dieser Art sein wird, das den Weg zu ihnen gefunden hat, in dem Arbeitskorbe, als ich das Band zu den Schleifen durch ein anderes ersetzen wollte Und,“ fügte Frau Mirus mit erhöhter, vor Wuth zitternder Stimme hinzu, „um Ihnen die Möglichkeit zu entziehen, unter meinen Augen Ihre schlau verdeckten Liebe¬ eien mit meinem Sohne weiter zu führen, ziehe ich vor, daß Sie, statt morgen mit mir zu reisen, nach Hause zurückkehren. Ihren vollen Vierteljahreslohn bin ich gesetzlich nicht berechtigt, Ihnen vorzu¬ enthalten. Er soll Ihnen ausbezahlt werden.“ Sprachlos stand das arme Mädchen da. Ihr schwebte nur Eines deutlich vor: mit Schande und Schimpf — in weit chlimmerer Art als sie je für möglich — hielt mußte sie nun doch zu den Ihrigen zurückkehren. Die Mutter würde wohl an ihre Unschuld glauben; aber der Vater war schwer zu überzeugen. Er hatte ihr schon immer gezeigt, daß er keine großen Stücke auf sie hielt — wie sollte sie ihm ihre Unschuld unwider¬ leglich beweisen? Frau Mirus entfernte sich mit hoch¬ müthiger Miene; das entscheidende Wort war gesprochen. Es lag ihr nun nur

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