Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1901

54 beaufsichtigte und unterrichtete zwar die kleinen Wildfänge den Tag über, doch da sie ihr Amt erst nach dem Frühstück antrat, fiel es Clara zu, während dieses Mahles die Aufsicht zu führen. Da war es wohl kein Wunder, wenn sie selbst erst spät Zeit zum Frühstück fand In Manches hatte sich das junge Mädchen fügen gelernt, Vieles sich an¬ geeignet, seit sie sich der elterlichen Autorität entzogen und in die Fremde gegangen war. Wie entsetzlich unwissend kam sie sich vor, als sie die Stelle in dem vornehmen Hause antrat. — Trotz all dem Aufwand, der in dem Heim des reichen Fabrikanten gemacht wurde, schlug doch unverkennbar überall der Sparsinn durch. Eben dieser war es welcher Frau Mirus bestimmte, eine „Stütze“ mit den Pflichten zu betrauen, die eigentlich von einer tüchtigen Haus¬ hälterin hätten geübt werden sollen. Frau Mirus fand es billiger auf diese Weise; auch blieb schließlich die Hand¬ habung der Autorität mehr in ihren Händen. Wenn schon Frau Mirus nicht, wie manche Andere, musikalisches Talent von dem Mädchen erwartete, das in ihrem Hause als Stütze fungiren sollte, so forderte sie große Vielseitigkeit und Ge¬ wandtheit im Haushalt, und als ihr das unerfahrene Mädchen vom Lande zum ersten Male gegenübertrat, gewann sie ihr wenig Vertrauen ab. „Ich will vier Wochen zusehen, ob Sie sich eignen und in unsere Verhält¬ nisse einleben können, Fräulein! aber hatte sie herben Tones hinzufügt „ich möchte es beinahe bezweifeln.“ Einen Augenblick stand Clara bei diesen Worten wie betäubt da; dann jedoch preßte sie die Lippen fest auf¬ einander, wie Jemand, der einen ent¬ scheidenden Entschluß gefaßt hat. Nein! dazu durfte es nicht kommen, daß sie nach Hause zurückgeschickt und es den Ihrigen klar wurde, sie habe sich auch die Zufriedenheit Anderer nicht zu erringen vermocht. Ihre rasche Fassungsgabe kam ihr nun zustatten, und was die Mutter daheim vergebens gepredigt, fing an, Früchte zu tragen. Kurz, zu Frau Mirus' Erstaunen dauerte es gar nicht lange, bis die „Einfalt vom Lande“, wie man sie spöttelnd bezeichnete, sich ganz leidlich ihrer Stelle anpaßte „ C Des jungen Madchens Augen hatten einen feuchten Glanz, als ihr die „Gnädige“ bedeutete, sie könne bleiben. Und doch gab es der Lebensfreuden gar wvenige für das in die Großstadt ver¬ pflanzte Landkind. Auch mit dem An¬ schluß an die Familie war es etwas Eigenthümliches. Wohl hielt man die von vorneherein festgestellte Vereinbarung und zog die Stütze zu Tisch; aber kaum je richtete Einer das Wort an Clara, der alle Interessen des Kreises, in welchem sie sich plötzlich befand, gänzlich ferne liegen mußten. Ihr dieselben aus Menschenfreundlichkeit etwas zugänglicher zu machen — daran dachte Niemand. Manch verstohlener Seufzer fand einen Weg von der reichbesetzten Tafel zu dem kleinen Häuschen, das draußen im Grünen stand, und in dem beim ein¬ fachen Tische so traulich geplaudert wurde. Oft glaubte Clara die Neckereien der Geschwister zu hören, bis plötzlich ein lautes Wort aus ihrer Umgebung oder das Erscheinen einer neuen Schüssel sie in die vergoldete (wenn auch nicht goldene) Wirklichkeit zurückrief. Auch das Klappern der Mühlräder schien zuweilen in ihr Ohr zu dringen und hatte — wohl durch die Entfernung — die Macht verloren, ihre Gehörnerven zu beleidigen. „Fräulein Clara, zehn Pfennige für Ihre Gedanken!“ rief zuweilen neckend der Sohn des Hauses, der sich mehr daheim, als an der Universität aufhielt, an welcher er angeblich seine Studien machte. Zum Gegenstand der Aufmerksamkeit geworden, erröthete das Mädchen dann bis zu den Schläfen, was in letzter Zeit Frau Mirus Gelegenheit gegeben, sie argwöhnisch zu beobachten. Sie fand,

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