Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1901

28 und so krank, daß ich mich kaum noch aufrecht halten kann. „Kommt Vater denn noch nicht wieder?“ fragte die Kleine dann, wohl zum tausendsten Male in ihrem jungen Leben. Als sie begreifen gelernt hatte, daß andere Kinder einen Vater hatten und sie nicht, hatte sie natürlich die Mutter gefragt und diese hatte sich wohl gehütet, dem Töchterchen die Wahrheit zu sagen, sondern hatte eine Geschichte erfunden, wie es kam, daß der Vater so lange fort war. „Ach, ich weiß es nicht, mein Kind, antwortete sie traurig Aber Du sagtest doch, Mutter, daß er bald kommen würde. Ich habe meinen Vater doch noch gar nicht gesehen. Ich in möchte gern, daß er käme und mich den Arm nähme und küßte. „Mein Kind, mein liebes Kind, der liebe Gott wird ihn uns hoffentlich bald wieder geben,“ erwiderte die Mutter, und heiße Thränen rannen ihr über das gram durchfurchte Antlitz. Frau Jansen glaubte fest an ihres Gatten Unschuld, wie sehr auch der Schein gegen ihn sprechen mochte, und in all der Noth und dem Elend, das sie durch¬ gekämpft, hatte die Hoffnung, daß ihr Gatte einst seine Unschuld erweisen und + als ehrlicher Mann zurückkehren werde ihr wie ein leuchtender Stern vorge¬ schwebt. Jeden Abend hatte sie zu Gott gebetet, daß er ihr Kraft verleihen möge so lange den harten Kampf mit dem Leben weiter zu führen, bis diese ihre einzige große Hoffnung erfüllt wäre. Nun war ja die Zeit nicht mehr gar so fern daß Philipp Jansen's Strafzeit ablief doch noch war keine Hoffnung, daß der Verdacht jener entehrenden Schuld, die den Unglücklichen Jahre lang hinter die Mauern eines Gefängnisses gebannt hatte von ihm genommen wurde. Diese Sorge quälte die arme Frau furchtbar; dazu kam die äußerste materielle Noth, wie sie bislang noch fern geblieben war. War es ihr mit ihrem Töchterchen auch oft knapp genug ergangen, eigentliche Noth hatten sie doch nicht zu erleiden brauchen. Jetzt war es so weit gekommen, wie wir gesehen haben, sie hatte nicht einmal mehr Licht im Hause. War es ein Wun¬ der, daß der von Entbehrungen und Ueberanstrengungen ausgezehrte Körper der armen Frau endlich zusammenbrach? Als am nächsten Tage auf Veranlassung der Zimmernachbarn der Armenarzt des Districts, Dr. Petri, zu ihr kam, consta¬ tirte er ein schweres Nervenfieber und ordnete ihre Ueberführung in das städti¬ sche Krankenhaus an, während die kleine Paula einer Kinderbewahranstalt über¬ geben wurde. * * Während Frau Jansen im Kranken¬ hause mit dem Fieber kämpfte, lag auch in einem hübschen Hause derselben Stadt ein Mann auf dem Krankenlager. Es war noch kein alter Mann, doch dem bleichen Antlitz war schon der Stempel des Todes aufgeprägt. Todesgedanken waren es auch, die die Seele des ster¬ benden Mannes erfüllten. Er blickte zurück auf sein vergangenes Leben und der Ge¬ danke an den Tod wurde ihm nicht leichter dadurch, daß er sich hätte sagen dürfen: wenn Du auch menschlich im Leben gefehlt hast, so hast Du Dich doch alle Zeit bemüht, den rechten Weg zu wandeln. Im Gegentheil, eine schwere Schuld drückte ihn, und jetzt, wo er das Nahen des Todes fühlte, sehnte er sich darnach ein Gewissen zu erleichtern. Sein bester Freund war der Arzt, der ihn behandelte, Dr. Petri; ihm wollte er ein Bekenntniß ablegen, ehe es zu spät war. Schon mehrmals hatte er ungeduldig die barm¬ herzige Schwester, die ihn pflegte, nach dem Kommen des Freundes gefragt, und erleichtert athmete er auf, als dieser endlich eintrat. „Wie geht es Ihnen, Holdheim? fragte der Arzt, indem er die Hand des Kranken ergriff. „Schlecht, Doctor,“ erwiderte der ehemalige Cassier der Firma Eisfeld

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