Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1901

wegen dringenden Verdachtes des Dieb¬ stahls zu verhaften.“ Ein erschütternder Schrei kam von den Lippen der jungen Frau, die ohn¬ mächtig in den Armen ihres Gatten zu¬ sammenbrach. * * * Die Kunde von der Verhaftung Philipp Jansen's ging wie ein Lauf¬ euer durch die Stadt. Der junge Kauf¬ mann hatte viele Freunde und es war keiner unter ihnen, der ihn eines solchen Verbrechens für fähig gehalten hätte. Aber es war ja kaum ein Zweifel mög¬ lich; wohl kam dem Einen oder Andern der Gedanke an die Wahrheit, doch da nicht der geringste Anhalt dafür vor¬ handen war, so hütete sich Jeder wohl, den Verdacht auszusprechen. Vergeblich waren alle Bemühungen der Freunde Jansen's, diesen von dem furchtbaren Verdachte zu befreien; der Beweis seiner Schuld war zu klar. Die Vertheidigung konnte nichts Anderes, als den makellosen Charakter des Schuldigen in die Waag¬ chale legen, und das war dem einen chweren Schuldbeweise gegenüber zu wenig. So konnte es nicht ausbleiben, daß Philipp Jansen zu langer Gefäng¬ nißstrafe verurtheilt wurde. Zwei Mo¬ nate nach jenem glücklichen Weihnachts¬ abend verschwand er hinter den Mauern des Gefängnisses, um dort eine Schuld zu büßen, die zu begehen vielleicht Nie¬ mand unfähiger war, als er. * * * Vier Jahre sind vergangen, wieder ist der Winter gekommen mit seinen dunk¬ en Abenden und seinem kalten, häßlichen Wetter, der Schrecken der armen Leute, die kein warmes, freundliches Heim ihr Eigen nennen, sondern nur gar zu oft Hunger und Frost erdulden müssen. In einem ärmlichen Vororte derselben Stadt, in dem der erste Theil dieser Ge¬ schichte sich abgespielt hat, wohnte in einem elenden Zimmer, das nur die allerdürftigste Ausstattung hatte, Frau 27 Anni Jansen; nicht allein, sondern mit hrem Töchterchen, das wenige Monate nach jenem Unglückstage, der ihr den Gatten entriß, geboren war. Was hatte die arme kleine Frau in diesen vier Jahren Alles durchmachen müssen! Eltern oder wohlhabende Verwandte, die ihr hätten helfen können, besaß sie nicht, und die sich Verwandten ihres Mannes hatten entrüstet abgewandt von der Frau des Mannes, der nur Schande über die Familie gebracht hatte. Doch Anni Jan¬ en war an Arbeit gewöhnt und sie hatte mit doppelter Energie gearbeitet, da sie nicht nur für sich, sondern auch für ihr Kind zu sorgen hatte. Oft war es ein harter, bitterer Kampf gewesen, oft war sie nahe daran gewesen, zu ver¬ zweifeln, aber immer, wenn die Noth am größten war, kam eine unerwartete Hilfe und erfüllte sie mit neuem Lebens¬ muth. Doch zu der Zeit, wo dieser zweite Theil unserer Geschichte beginnt, sah es gar traurig aus. Die unglückliche junge Frau saß mit ihrem Töchterchen in ihrem ärmlichen Zimmer, das von keinem anderen Licht erhellt war, als von den chwachen Strahlen, die aus dem be¬ cheidenen Feuer hervorleuchteten, das im Ofen glühte. Da Frau Jansen unablässig zu arbeiten pflegte, so war die kleine — so hieß Philipp Jansen's Paula Tochter — nicht daran gewöhnt, im Dunkeln zu sitzen. „Weshalb machst Du kein Licht, Mutter?“ fragte sie schließlich. „Es ist schrecklich, im Dunkeln zu sitzen.“ so „Ich habe weder Petroleum noch eine Kerze im Hause, mein Kind, und auch kein Geld, etwas zu kaufen,“ ant¬ vortete mit Thränen in den Augen die Mutter. „Du mußt es schon ertragen, mein Herzenskind.“ „Weine nicht, Mütterchen,“ sagte Paulchen und schlang die Arme zärtlich uim der Mutter Hals. „Armes Kind, was soll aus uns werden?“ erwiderte Frau Jansen und drückte seufzend ihren kleinen Liebling an sich. „Ich fühle mich ja so schwach

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