Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1900

86 die chinesische Regierung hatte damit eine neue Ermuthigung für ihren Widerstand gegenüber den Forderungen Italiens erfahren. Am 14. Mai 1899 war ein neues Ministerium Pelloux ge¬ s Visconti¬ bildet, in welchem an Stelle Canevarc Venosta das Ministerium des Aeußern inn hatte und welches, von der Rechten, vom Cen trum und von der Gruppe Crispi unterstützt, auf eine sichere Majorität in der Kammer rechnen konnte. Die Opposition, erbittert über die Art und Weise, wie das Ministerium Pelloux durch seine Demission die weitere Debatte über die chinesische Angelegenheit ab¬ geschnitten hatte, erbittert weiters überdie Wiederberufung Pelloux' an die Spitze der Regierungsgeschäfte und nicht besänftigt durch die Erklärung des Ministerpräsidenten, daß sich die Regierung vorbehalte, die infolge der De¬ mission des früheren Cabinets unterbrochenen Ver¬ handlungen mit China wieder aufzunehmen, um eine befriedigende Lösung zu sichern, durch welche Italien weder in finanzieller noch in militärischer Hinsicht engagirt würde, da es ausschließlick handelspolitische Zwecke verfolge, suchte dem neuen Ministerium dadurch Schwierigkeiten zu bereiten, daß sie dem Wunsche der Regierung nach Vertagung der die auswärtigePolitik betreffenden Interpellationen und nach rascher Inangriffnahme der zweiten Lösung der inner¬ politischen Vorlagen den heftigsten Widerstand entgegenstellte und als sie sah, daß sie in ihrem Bestreben von der Majorität keine Unterstützung zu erwarten habe, zur Obstructiongriff.Die Unmöglichkeit der Obstruction Herrzu werden war die Veranlassung, daß das Parlament am 22. Juni zunächst bis zum 28. Juni 1899 ver¬ tagt wurde. Sofort nach Vertagung Kammer der erschien ein königliches Decret, welches die von der Regierung beschlossenen, im Parlamente wegen der Obstruction nicht zur Berathung gelangen könnenden politischenMaßnahmen be¬ züglich der Versammlungen, der Vereine, der Ausstände von Bedienstetender Eisenbahnen der Post=, Telegraphen= und Beleuchtungsan stalten, der Presse verfügte. In der Sitzung der Kammer vom 28. Juni 1899wurde dieses königliche Decret zur Ertheilung der Indem¬ nität eingebracht und trotz der stürmischen Auflehnung der Opposition der Antrag des Ministerpräsidenten, das Decret an die zur Prüfung der politischen Gesetzentwürfe einge etzte Commission zu verweisen, worin die Re¬ gierung die Zuerkennung der Indemnität er¬ blicke, in namentlicher Abstimmung mit 208 gegen 138 Stimmen angenommen. Es war dies ein Sieg der Regierung, der freilich leicht zu einem Pyrrhussiege werden konnte, den aber die Regierung, vorläufig voll wenigstens, auszunützen verstand, indem sie am 30.Juni 1899 den Schluß der Parlamentssession veran¬ laßte. Mailand und Neapel Die Aufstände zu Italiens im und in vielen anderen Orten Verhängung des Bela¬ Mai 1898 hatten die gerungszustandes über Mailand, Florenz und die Provinz Neapel 2c. zur Folge. Die Auf¬ hebung dieser Maßregel erfolgte erst mit Ende August 1898. * * * Im März 1899 versetzte eine Erkrankung des greisen Papstes Leo XIII., welche eine Operation nothwendig machte, die katholische Welt in tiefe Bekümmerniß. Die Operation gelang und bald hatte sich der Papst so weit erholt, daß jede weitere Besorgniß geschwun¬ den war. Frankreich. Drei Ereignisse sind es, welche in der Be¬ richtsperiode im Vordergrunde des Interesses in Frankreich standen: Der plötzliche Tod des Präsidenten der französischen Republik Faure die Wahl Loubet's zu dessen Nachfolger und die Bewilligung der Revision des Processes Dreyfus. Der Tod des Präsidenten Felix Faure erfolgte am 16. Februar 1899. Der Präsident hatte an diesem Tage um 7 Uhr Abends einen Schlaganfall erlitten, der ihn völlig lähmte. Er tarb um 10 Uhr Abends bewußtlos. Felix Faure wurde am 30. Jänner 1841 in Paris geboren, widmete sich der kaufmänni¬ schen Laufbahn und machte seine Lehrzeit in einem Gerberei= und Ledergeschäfte durch. Er begründete darauf ein Rhedereigeschäft in Havre, wurde Mitglied und endlich Präsident der Handelskammer. Bei der Präsidentenwahl wurde er mit 430 gegen 361 Stimmen gewählt. Am 18. Februar 1899 wurde Senatspräsi¬ dent Emile Loubet von dem zur Neuwahl des Präsidenten der Republik nach Versailles ein¬ berufenen Congreß sofort im ersten Wahlgange mit 483 Stimmen zum Präsidenten der Re¬ publik gewählt. In Marsanne geboren, stand Loubet am Tage seiner Wahl im 61. Lebens¬ jahre. Von Beruf Jurist, spielte er seit 1876, in welchem Jahre er in die Kammer gewählt wurde, eine große Rolle im öffentlichen Leben Frankreichs. 1887 war er das erste Mal Minister, 1892 bildete er selbst ein Cabinet. Am 16. Jänner 1896 wurde er zum Präsidenten des Senats gewählt, welche Würde er seither bekleidete Mehr aber als diese beiden Ereignisse be¬ herrschte das öffentliche Interesse, ja das öffent¬ liche Leben Frankreichs die Affaire Dreyfus oder kurzweg die „Affaire“ Seit ihrem Wieder¬ auftauchen im October 1897 ließ sie das Land das sie in einen wahren Taumel der Leiden¬ chaften versetzt hatte, nicht mehr zur Ruhe kommen. Einzelne Minister, wie ganze Ministerien

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2