Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1900

46 Anne=Marei geht an's Sortiren und Packen und ist am Abend des zweiten Tages so weit, daß sie nur noch mit der Ahne oder der Base in der „Sonne" Rück¬ sprache zu nehmen hat über Einiges, was daheim in Verwahrung bleiben soll. Sic ging ungern hinunter, denn der Abschied fiel ihr schwer. Bei der alten Frau wurde er übrigens rasch erledigt, da sie allerlei ungereimtes Zeug sprach und die Enkelin fortwährend mit der verstorbenen Tochter verwechselte. Mit feuchten Augen ging Anne=Marei die Stiege hinunter und blieb zaghaft am Hühnerhof stehen, um zu überlegen ob sie vom Vater Abschied nehmen, oder einer vielleicht peinlichen Scene lieber entgehen soll, als der Sonnenwirtl langsam auf sie zukam. Einer weichen Regung folgend, welche sie beschlich, streckte sie die Hand aus und agte bittend: „Vater, sei mir nimmer bös und sage „Adje', ehe ich fortgehe.“ Der Sonnenwirth fühlte ein mensch¬ liches Rühren —er wußte selbst nicht so ganz warum — mit dem blassen Weib, das doch sein eigen Fleisch und Blut, und jetzt fortzieht, einer ungewissen Zukunft entgegen. Behüt Dich Gott, Mädel,“ sagt er, „mit Dir bin ich ja nicht bös wenn Dir's zu viel wird bei dem beim Nazi —dann kommst halt heim zu Deinem Vater.“ Ueberwältigt von einem Abschied, den sie nicht erwartet, bricht Anne=Marei in lautes Schluchzen aus und die hellen Zähren laufen ihr über die hageren Wangen In diesem Augenblicke stürzt athemlos des Schulzen Bärbel herein. Schon von Weitem ruft sie: „Wo ist die Wendel¬ bäuerin? — 's ist ein grausig's Unglück gescheh'n — den Nazi hat der Gendarm geholt — in's Verhör und nachher soll er eingesperrt werden — und morgen führen sie ihn ab in's Gefängniß 1 drinnen in der Stadt So außer Athem hat sich die Bärbel geredet, daß sie nimmer weiter kann; aber es ist recht gut so, denn die Anne¬ Marei braucht ihren Beistand. Sie ist zum ersten Mal in ihrem Leben ohn¬ mächtig geworden und der Sonnenwirth weiß nicht, was er anfangen soll. * * + Am nächsten Morgen erfahren die erregten Dorfbewohner, daß man den Nazi Bäumer nicht mehr in's Gesäng¬ niß transportiren muß. Er hat der Ob¬ rigkeit diese Mühe erspart und seinem verfehlten Dasein in der Nacht mit dem Strick, den er aus dem Bettlaken ge¬ dreht, ein Ende gemacht. Sein unglückliches Weib weiß davon nichts zur Zeit, denn sie liegt in wilden Fieber=Phantasien daheim in ihrem Jungfernstüble. Sie hat ja keine andere Heimat mehr als diese und der Vater bei dem das Mitleid endlich über den bittern Groll gesiegt, den er über ihre unglückliche Ehe empfunden, gönnte ihr dieselbe. Er legte sogar so viele Rücksicht an den Tag, daß er in der Nähe des Krankenzimmers niemals laute Flüche ausstieß. Desto mehr gab er sich der zur zweiten Natur gewordenen Gewohnheit des Fluchens vorne im Wirthszimmer hin, als ihm nach und nach die Einzeln¬ heiten bekannt wurden, welche mit dem unglücklichen Ende seines Schwieger¬ sohnes verknüpft waren. Nazi Bäumer hatte in der Stadt einen Freund seines Gelichters gehabt der aber schon die Grenze zwischen Leichtsinn und Verbrechen überschritten. Diesem gewährte er in letzter Zeit Ein¬ blick in seine Verhältnisse; dieser war es auch, der, in der Absicht selbst Nutzen aus dem Verbrechen zu ziehen, ihm den Gedanken an dasselbe eingeflößt und sich zur Ausführung bereit erklärt hatte. Mit Nazi's Beihilfe bot sich ihm keine Schwierigkeit. Am bestimmten Tage trieb er sich in der Nähe des Wendelhofes herum, bis Nazi auf dem Weg zur Stadt, wohin er absichtlich ging, um später den Verdacht von sich abwälzen zu können, ihm das Zeichen gab, daß das Feld rein sei.

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