Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1900

42 Nazi hat noch ein Geschäft zu er¬ ledigen, ehe er endlich mit der Arznei in der Tasche den Heimweg mittelst Bahn antritt. Erst gegen drei Uhr Nachmittags stellt er sich auf dem Wendelhofe ein Der heilende Saft, den er mitgebracht, wird dort nimmer gebraucht, denn Anne¬ Marei ist nicht länger Krankenpflegerin sie hält jetzt Leichenwache. * * * Der Wendelin hat eine schöne Leiche gehabt; darüber ist man in Klein=Hessel¬ bach einig. Sein elendes Dasein hat einen schönen Abschluß gefunden und seine Mutter weint so viel um ihn, als ob er das blühendste und schönste Kind weit und breit gewesen wäre. Zu jeder Stunde bei Tag wie bei Nacht hat er rufen dürfen; nie ist ihr etwas zu viel geworden an Arbeit und Mühe für den siechen Knaben. Er hat sich an sie angeschlossen und angeklammert mit einer Zärtlichkeit, deren ein kränkliches Kind meist weitaus fähiger ist als eines im Vollbesitz der körperlichen Kräfte. Wie sie vor einigen Tagen die Stallmagd dem Knecht zuflüstern hörte „unser Wendelin wird's wohl nimmer lang treiben,“ hat sie wilder Schmerz ergriffen; sie ist auf die Knie gesunken und flehte, Gott möchte ihr doch ihr Bübchen lassen. Und jetzt hatte sie doch allein bleiben müssen— so mutterseelenallein in ihrem Elend! Einige Trostesworte haben die Leute schon für sie gehabt. Der Nazi hat gemeint, ihr Wendelin wäre doch als Krüppel aufgewachsen und Gutes warte auf solche Menschen nicht in der Welt; aber nichts schien großen Eindruck auf sie zu machen. Nur die Ahne, welche unerwartet zur Beerdigung herausge¬ kommen und einen ihrer besten Tage haben mußte, hatte den richtigen Ton getroffen. „Siehst, Anne=Marei, Du hast gethan, was ein Mensch hat thun können an Wendelin und dort, wo er nun ist, wird er es noch besser haben, als hier. Und wenn er seine Ruh' hat,“ fügt sie mit einem Blick auf den blumengeschmückten Sarg bei, „dann mußt Du tüchtig schaffen, daß Dir die schwarzen Gedanken ver¬ gehen.“ „Und kommt mein Vater nicht? ragte die Wendelbäuerin, nachdem sie den Kopf auf die Schulter der Ahne gelegt und dort die ersten erleichternden Thränen geweint. „Kennst Du Deinen hartköpfigen Vater nicht besser?“ erwidert die Ahne und lacht laut auf in ihrer gewöhnlichen verrückten Art. Sobald vom Sonnen¬ wirth die Rede ist, ist's meist vorbei mit ihren vernünftigen Anwandlungen. Etwa einen Monat nach des Kindes Tod rüstet sich Anne=Marei zu einem langen Gang. Es ist ihr immer wohler draußen als daheim, wo sie Alles an Wendelin mahnt. Ueberdies hat sie einen Zweck. Sie will nachsehen, daß alles Heu, was noch am Steinbühl liegt, hereingeschafft wird, denn schwere Wolken steigen, nach der Wetterseite zu, auf. Der Nazi, welcher in den letzten Wochen ungewöhnlich viel zu Hause ge¬ wesen, ist heute in die Stadt, wo er wohl übernachten wird wie er gesagt weil er am nächsten Morgen als Zeuge zu einer Gerichtsverhandlung geladen ist Als er schon ein gut Stück Weges ge¬ gangen sein mußte, war er nochmals zurückgekommen und hatte unschlüssig gesagt: es sei doch nicht sicher mit dem Uebernachten in der Stadt, es komme darauf an, wie er mit seinem Geschäft fertig werde. „Geh' nur wie sonst ins Bett,“ fügte er noch hinzu. Anne=Marei wunderte sich im Stillen über Nazi's Rücksicht und ein ganz leiser Hoffnungs¬ strahl beginnt sich in ihr Herz zu stehlen. Ihr Gang ist nicht so schleppend wie sonst, als sie, den Kopf mit einem weißen Tuch gegen die Sonne geschützt, der Wiese im Steinbühl zuschreitet. Dort angekommen, ruft ihr der herr¬ liche Duft des frischen Heues einen Abend ins Gedächtniß, an dem sie kurz vor ihrer Hochzeit mit Nazi einen Gang durch's

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