Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1900

„Der Nazi war Dir ganz recht, so und lang es ihm nicht schlecht ging für's Unglück kann kein Mensch,“ ver¬ theidigt sie gegen ihre bessere Ueberzeu¬ gung den Abwesenden. Plötzlich werden zwischen den Worter der Streitenden hindurch klägliche Laute hörbar. Wie das heisere Bellen eines Hundes klingt es, und die Stimme ist dabei so todesschwach und gebrochen daß die Mutter Wendelin's mit einen Wehelaut fortstürzt, um das schwer kranke Kind in den Kissen in die Höhe zu heben, damit es nicht ersticke. Sic läßt dabei die Thüre zum Schlafzimmer offen stehen, und der Großvater muß unwillkürlich die Leidensgestalt mit dem wachsgelben Gesicht sehen, welche wohl keine menschliche Hilfe festhalten wird in der irdischen Heimat „ Etwas wie Grausen überfallt den ärgerlichen Mann bei diesem Anblick; er findet es immer unangenehm, an die Vergänglichkeit gemahnt zu werden, be¬ sonders aber bei Denen, welche ihm nah stehen. Zudem wäre jedes weitere Wort Verschwendung, — die besorgte Mutter würde ihn ja nicht einmal anhören! So nimmt er denn rasch entschlossen den Strohhut zur Hand, murmelt etwas das wie „Adjes“ lautet, und polter die Stiege hinunter. * * * Vor ein paar Stunden hat Nazi ebenfalls die Flucht ergriffen, um den Jammer daheim zu entgehen. Er hat sich angeboten, statt der Magd in die Stadt zu gehen, um die Arznei wieder machen zu lassen, welche der alte Kreisphysicus ein fleißiger Besucher des Wendel¬ verschrieben. hofes — Dem Vater ging des Kindes Elend zu Herzen, denn Nazi ist nicht hartherzig; er ist leichtsinnig, schwach und eitel, Ei¬ genschaften, die, mit einem guten Theil Trägheit gepaart, ihn zu dem gemacht haben, was er im Laufe der Jahre ge ein unnützes Mitglied der worden — menschlichen Gesellschaft. 39 Heute hat er das Elend zu Hause nicht länger mit ansehen können; aber nicht einmal ist ihm der Gedanke ge¬ schwerer es für Anne¬ kommen, wie viel Marei sein müsse, das Kind seinem Ende entgegen gehen zu sehen, das ihr Alles war, als ihm, der sich dieses verküm¬ — ja, eine Art merten Wesens schämte von Abneigung gegen dasselbe gefaßt hatte Aber jetzt in der letzten Stunde wollte er doch etwas für das Bübchen thun und das Tränkchen herbeischaffen von dessen Wirkung freilich nichts mehr zu erhoffen möglich schien Nazi hatte eine gewisse Fertigkeit darin erlangt, sich peinliche Gedanken ferne zu halten, und da seine Verhält¬ nisse nun solcher Art waren, daß die Ueberlegung derselben nur unerquicklich sein konnte, befaßte er sich grundsätzlich nicht damit, den Dingen ins Auge zu blicken. Ueberdies schlummerte in seinem trägen Gehirn ein Rettungsplan, den er ich in unbestimmten Umrissen zurecht gelegt, für den Fall, „wenn einmal die Noth an den Mann gehen sollte, eine auf seinem Dorfe übliche Redensart. Während des langen Ganges zur Apotheke drängte sich ihm nun doch die Ueberzeugung auf, dieser Zeitpunkt liege bedenklich nahe und da ihm das Kind nun die Stimmung verdorben, ging es in Einem hin, wenn er sie sich noch um ein beträchtlich Theil mehr verderben ließ, indem er über Mittel und Wege ann, die zum zweiten Mal drohende Gant ferne zu halten. Einmal packte ihn flüchtig der Ge¬ danke, seines Weibes oft gemachten zu 22 Vorschlag zu beherzigen: tüchtig schaffen und ein anderer Mensch zu werden. Dies fand er jedoch als ein allzu harte Nuß, die zu knacken es auch nicht mehr an der Zeit war, denn mit Fleiß kommt man nur langsam vor¬ wärts, wenn es sich darum handelt, ein fallendes Gebäude aufrecht zu halten Hundert Mark mußte Nazi jetzt sofort auftreiben, das war klar. Der

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2