Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1900

24 Tinte im kleinen Lädchen nebenan holen, und wenn Du nicht gewechselt hast bleibe ich die paar Pfennige bis morgen chuldig. „So kann man es wirklich nicht 7 lesen „Nicht leicht wenigstens,“ stammelt muthig das Kind. — „Gut so besorge Tinte aber nur wenig —zur Probe — bis ichsehe, ob sie tangt.“ Ach! es ist nicht der erste kleine Vorfall dieser Art, welcher sich in dem elenden Dachstübchen abspielt, das keinen anderen Ausblick gewährt, als den au die zahlreichen Schornsteine der Nach¬ barschaft. Das wolkenlose Blau des Himmels wirft heute seinen lichten Schein bis in die Tiefe des Zimmerchens, und als ob seine müden Augen so viel Licht nicht vertrügen, beschattet sie Möllner mit der Hand, während der Knabe schon leicht¬ füßig die vielen Treppen hinabeilt, um Tinte herbeizuschaffen. Nebenan ist das köstliche Naß des Tintenfisches nicht zu finden; sie haben es ausgehen lassen. Der Kleine eilt weiter; er weiß Bescheid in den Läden, besser als der Vater, der noch immer regungslos auf dem Stuhle sitzt und nachdenkt. Rückblicke auf sein Leben drängt er meist gewaltsam zurück. Wer magsich damit befassen, eine Vergangenheit voll Hoffnungen an sich vorbeiziehen zu lassen, wenn die Gegenwart die Erfüllung keiner derselben gebracht hat? Aber heute drängen sich die Tage gewaltsam in den Vordergrund, in wel chen ihn wenigstens die Noth nicht in eisernen Banden hielt, während denen er nicht gezwungen war, Ausflüchte vor dem eigenen Kinde zu ersinnen, um die traurige Wahrheit zu verhüllen. Inmitten seines Sinnens hört er den schweren Tritt des Briefträgers auf der knarrenden Stiege. Die fünf Treppen hat der Bote Stephan's nur selten zu erklimmen, denn man steht hier oben nicht in regem Verkehr mit der Außen¬ welt. Eine Zehnpfennig=Marke, die erst verdient werden muß, wird nicht ohne Ueberlegung geopfert! Möllner freilich hat schon öfters die letzte Münze der dürftigen Börse ent¬ nommen, um ein Inserat zu beantworten in dem zum Beispiel ein Musiklehrer, dem das Prädicat billig und tüchtig zugleich zukommen soll, gesucht wird. Meist aber ist er nicht der Glückliche, dem es zufällt, unter den vielen Mitbe¬ werbern gewählt zu werden, um einem talentlosen Menschenkinde die edle Musik einzupanken. Doch die Arbeit, mittelst deren er sich und dem Kinde jetzt das Leben ristet, hat er einem Offertbrief zu danken, und von neuer Hoffnung beseelt, studirt deshalb Richard fleißig jedes Localblatt, dessen er habhaft werden kann, für den Vater und theilt ihm seine Entdeckungen mit einer eines speculirenden Geschäfts¬ mannes würdigen Miene mit. Es ist schon mehrere Wochen her, eit der Vater Arbeit auf diesem ihm nicht mehr ungewohnten Wege gesucht und nicht gefunden hat. Deshalb erweckt das Nahen des Briefträgers keine Hoff¬ nung in seinem Herzen. Er wird wohl für die Frau nebenan, die auch einmal bessere Tage gekannt, einen Brief von ihrem Sohne bringen. Doch nein * * „ vor seiner Thüre bleibt er stehen und da kein Schlüssel in derselben steckt, glaubt ihn der Bote abwesend und schiebt zu der fingerbreiten Spalte unter der Thüre eine der dem Papier anvertrauten Botschaften herein, die auf ein Haar Tausenden von anderen äußerlich gleicht, welche täglich ihren Rundgang durch die civilisirte Welt machen. Die Pulse des Mannes schlugen um etwas höher, in seine aschfahlen Wangen steigt ein leiser Auflug von Roth, als er mit zitternder Hand das Schreiben aufhebt, das am Ende doch reichlicheres Brot für die kommenden Tage verheißen mag.

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2