Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1899

77 In Graz war während der Demonstration gegen das Ministerium Badeni der Tischlergehilfe Rittner von der bosnischen Infanterie erschossen worden. Sein Leichenbegängniß gestaltete sich zu einer neuen Demonstration, an wlcher sich der Gcmcinderath mit dein Bürgermeister an der Spitze, der Landesausschuß, die Reichsrathsabgeordneten Ludwig und Resel, ie beiden Präsidenten der Handelskammer, alle volitischen Clubs, die gesammte deutsche und nd italienische Studentenschaft theilnahmen. Während die deutschen Städte Oesterreichs die Demission Badeni's feierten, kam es in Prag aus demselben Anlässe czechischerseits zu lebhaften Demonstrationen in entgegengesetzter Richtung, die allmälig zu einem förmlichen Aufruhr ausarteten. Deutsche Bürger wurden nsultirt und mißhandelt, deutsche Häuser angegriffen, die Fenster eingeworfen, dentsche Geschäfte geplündert, die einschreitende Wache beschimpft nnd thätlich verletzt, w daß sich das Ministerium Gautsch am 2. December bewogen fand, zuni Schutze der persönlichen Sicherheit und des Eigenthums über Prag und die Gerichtsbezirke Karolinenthal, Zizkov, Weinberge und Smichov das Standrecht zu verhängen. Das Ministerium Gautsch betrachtete es als seine erste Aufgabe, eine Verständigung mit den Deutschen herbeizuführen. Die diesfälligen Verhandlungen führten jedoch zu keinem greifbaren Resultate. Nachdem in einer am 9. Jänner in Leitmeritz abgehaltenen Conferenz die deutschböhmischen Abgeordneten sich einstimmig für die Beschickung des böhmischen Landtages ausgesprochen, wurde dieser Landtag am 10. Jänner eröffnet und gleichzeitig das über Prag und dessen ! Vororte verhängte Standrecht aufgehoben. In dieser ersten Sitzung des Landtages brächte Doctor Schlesingcr einen Antrag auf Aufhebung der Sprachenvcrordnungen, der Führer des Feudal- adels, Graf Buquoy, aber einen Antrag ein, wonach eine aus 24 Mitgliedern bestehende Commission einzuberufen sei, welche Bericht zu erstatten und Anträge zu stellen hätte, wie im Einverständnisse mit den Vertretern beider Volks- stümme die sprachlichen Verhältnisse des Landes geregelt werden könnten. Am 18. Jänner begannen in Prag thätliche Angriffe des czechischen Pöbels gegen die larbcn- tragenden deutschen Studenten, welche immer größere Dimensionen annahmen nnd schließlich am 20. Jänner zn dem Verbote des Farben■ tragen? führten. Dieses unerwartete Verbot hatte die Resignation des akademischen Senates der Präger deutschen Universität nnd den Strike der deutschen Studentenschaft an den Universitäten in Prag, Wien, Innsbruck und Graz, an den Techniken in Wien und Brünn, an der k. k. Akademie der bildenden Künste und an der Hochschule für Bodencultur in Wien und der Bergakademie in Leoben, sowie den durch diesen Strike verursachtcn ausnahmsweise frühen Schluß der Vorlesungen zur Folge. Da trotz des Widerstandes der Deutschen die Adreßdebatte der Bndgetberathung im böhmischen Landtage voransgchen sollte, so schieden die Deutschen am 26. Februar 1898 unter Abgabe einer Erklärung gegen den Inhalt der Adresse aus der böhmischen Landstube. Nachdem am 2. März 1898 der Präger Rumpflandtag geschlossen worden war, wurde auch das Farbenverbot am 3. März wieder aufgehoben. Am 4. März wurde der Reichsrath auf den 21. März 1898 einberufen. Am 5. März veröffentlichte das Amtsblatt neue, vom 24. Februar 1898 datirte Sprachenverordnungen für Böhmen und Mähren, womit die B a d en i'schen Sprachenverordnungen vom 3. April 1897 aufgehoben wurden, und welche in gewisser Beziehung Hraf Thun. einigen Beschwerden der Deutschen gerecht wurden, andere aber unberücksichtigt ließen. Am 6. März 1898 wurde die Welt durch die Kunde überrascht, daß das Cabinet Gantsch seine Demission überreicht, und daß der Kaiser die Demission angenommen nnd den Geheimen Rath Franz Grafen von Thun nnd Hohenstein — den ehemaligen Statthalter von Böhmen — zum Ministerpräsidenten ernannt habe. Am 7. März wurde das neue Cabinet wie folgt ernannt: Ministerprüsidium und Inneres: Graf Thun; Landesvertheidigung: Graf Welsersheimb; Eisenbahnen: v. Mittel; Justiz: v. Ruber; Cultus und Unterricht: Graf Bylandt-Rheidt; Ackerbauminister: Michael Freiherr von Käst; Finanzen: Dr. Josef Kaizl; Handelsminister: Dr. Josef Maria Baernreither; Minister für Polen: Adam R. v. Jedrzejowicz. Die Wiederaufnahme der Reichsrathsverhandlungen am 21. März 1898 fand gleichzeitig

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