Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1899

76 niedergelegt. Im Hause tobt eiu entsetzlicher Lärm: ohrenbetäubendes Geheul, schrilles Pfeifen, der grelle Ton der Kindertrompete, das Trommeln der Lineale und Fäuste — eine entsetzliche Katzeu- musik — die Sitzung kann nicht eröffnet werden. Wolf erscheint einen Moment im Hause, um trotz seiner Ausschließung an den Verhandlungen theilzunehmen, er wird neuerdings von der Polizei entfernt - und definitiv verhaftet. Doctor Lueger ladet die Clubobmänner zu einer Coii- fereuz ein; diese beschließen, deui Ministerpräsi deuten das Unhaltbare der Situation vorzn- stellen. Dr. Lucger erklärt dem Grafen Badeui, daß er als Bürgermeister Wiens bei Fortentwicklung derjctzigenZuständekeiueGarantie für die Aufrechterhaltung der Ordnung in Wien übernehmen könne. EinigeMinuten nach ‘/.12 Uhr erklärt Dr. Kramarz die eigentlich gar nicht eröffnete Sitzung für geschlossen — die nächste Sitzung soll auf schriftlichem Wege bekannt gemacht werden. . Unterdessen ist die Erregung aus der Straße i:n steten Wachsen begriffen — die Studentenschaft, die Arbeiterschaft wie die Bürgerschaft nehmen an lauten Kundgebungen gegen die Vorgänge im Parlamente theil; die Polizei dringt mit blanker Waffe auf die Demonstranten ein. Im Gemeinderathe werden von allen Parteien Anträge wegen Stellungnahme der Gemeindevertretung gegen die Vorgänge im Parlamente eingebracht. Auch in der Provinz ist es zu heftigen Demonstrationen gekommen; jene in Graz sollten noch zu weiteren Folgen führen. Man war aus das Äeußerste gefaßt. Da änderte sich am 28. November mit einem Schlage die Situation. Ein Extrablatt der „Wiener Zeitung" brächte die Meldung, daß der Kaiser die Vertagung des Reichsrathes bis auf Weiteres verfügt habe; ein zweites bald darauf erschienenes Extrablatt derselben Zeitung meldete, daß Se. Majestät die Demission des Ministeriums Badeui angenommen und Frei- Herrn Gautsch v. Frankenthurn mit der Cabinetsbildung betraut habe. Diese Nachrichten wurden in Wien, gleichzeitig mit den Extrablättern, von Wachleuten in Gast- und Kaffee Häusern colportirt und unter Einem durch den Telegraphen in alle Richtungen verbreitet. Wie die Erlösung von einem schweren Alp kam diese Mittheilung, die Menge beruhigte sich, in den deutschen Provinzen brach die Bevölkerung, die eben noch gegen das Ministerium Baden, demonstrirt hatte, in Hochrufe aus den Kaiser aus, in vielen Provinzstädten, und theilweise auch in Wien, wurde illuminirt, in anderen das Er- eigniß durch Fackelzüge gefeiert. Eine der ersten Folgen war die sofortige Enthaftnng Wolf s, welcher bald die Einstellung jeder Untersuchung gegen ihn nachfolgte. Der Gemeinderath der Haupt- und Residenzstadt Wien sprach Sr. Ma;e- stät den ehrfurchtsvollen Dank für die Entlassung des Cabinets Badeni aus. neue Geschäftsordnung bereits in Kraft getreten fei. Der 26. November sollte dre erste Anwendung der neuen octroyirten Geschäftsordnung bringen. Schon den Beginn der Sitzung leiteten unerhörte Zwischenfälle ein; die Linke, welche von der ursprünglich geplanten Abstinenz Abstand genommen, war kampfbereit am Platze; ihr sind in den Socialdemokraten und den Christlichsocialcn neue Bundesgenossen entstanden; letztere haben sich für den Anfchluß an die deutschen Gruppen, für die deutsche Gemeinbürg- schaft erklärt. Beim Erscheinen des Präsidiums wird selbes von ununterbrochenen „Hinaus"- Rufen empfangen. Der Socialist Beruer stürzt sich zum Präsidententisch, um Abrahamovicz zu verdrängen, ein fürchterlicher Tumult entsteht im Hause; die Rechte eilt dem Präsidenten zu Hilfe, die Socialdemokraten ihrem Genossen — ein rasender Kampf entbrennt. Der Präsident entfernt sich eiligst, seine Papiere fliegen im Saale umher; das Präsidium ist im Besitze der Socialdemokraten; da öffnet sich die erste Saalthüre auf der Rechten und unter Conimando eines Polizeibeamtcn erscheint eine Truppe Sicherheitswachmänner, lvelchc in Gegenwart mehrererMinister vorn Bicepräsidenten Kramar die Weisung erhalten, das Präsidium vou den Socialisten zu befreien. Die Wache umzingelt die Socialisten, Abgeordneter Cingr wird als Erster, trotz heftigen Widerstandes, von der Wache aus dem Saale entfernt, dann folgen die anderen Socialisten; die Abgeordneten Wolf und Daszynski werden mitten im Saale verhaftet, Abgeordneter Schönerer ausgeschlossen und so waltet unter dem heftigen Tumulte, der im Saale entsteht, die lex Falkenhahn ihres Amtes fort. Inzwischen hat auch außerhalb des Hauses die Erregung immer zugenommen; bereits am 10. November hatte die Studentenschaft in friedlicher Weise durch einen unvermutheteu Aufmarsch vor dem Parlamente gegen die Sprachen- verordnungeu demonstrirt — 2000 deutschnationale "und deutschfortschrittliche Studenten hatten au der Demonstration, welche in der Ab- singung der „Wacht am Rhein" culminirte, theilgenommen. Am 26. November, während im Parlamente die Wache den erhaltenen Räumungsbefehl vollzog, erneuerten sich die Demonstrationen, an welchen sich nun auch die übrige Bevölkerung betheiligte, und gegen welche die Wache ein- schritt; anch in der Provinz riefen die Nachrichten aus Wien lebhafte Erregung hervor. Am 27. November tobt der Kampf im Parlamente weiter und auch die Straße nimmt immer lebhafteren Antheil an diesem Kampfe. Die Opposition kämpft geschlossen; die Christlichsocialen haben sich ihr angeschlossen; der Pole Mad ey ski hat seinen Austritt aus der parlamentarischen Commission der Rechten angemeldet; die dem Bureau als Schriftführer angehöreuden Mitglieder der Opposition haben ihre Aemter

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