Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1899

74 Reihe von Petitionsverlesungen und von zwölf namentlichen Abstimmungen hatte die Sitzung bereits bis 12 Uhr Nachts gedeihen lassen,. da erhob sich Dr. Funke zu einer Interpellation, worin er die Richtigstellung des Protokolles dahin verlangte, daß der Bicepräsident erklärt habe,eine Abstimmung über den Antrag Funke's, wonach der Ministerpräsident während der Verhandlung der Ministerauklagen im Saale zu erscheinen habe, nicht zuzulasscn, und dahin, daß ins Protokoll eingeschaltet werde, daß nach Wiederaufnahme der Sitzung Graf Badeni im Saale erschienen sei. Ohne die Beendigung der Rede Funke's abzuwarten, und obwohl noch andere Redner zum Worte gemeldet waren, erklärte Abrahamovicz, daß er das Protokoll in beiden Richtungen ergänzen werde, und ertheilte dann dem Abgeordneten Dr. Herold, als ersten Redner betreffend die Ministeranklageu, das Wort. Die Opposition protestirte lebhaft gegen diesen Vorgang, der Lärm wurde immer heftiger; anhaltende Pfuirufe wurden laut, viele Abgeordnete behandelten die Pulte mit den Deckeln; zwischen den Abgeordneten Türk (deutschnational) und Krnmbholz sczechisch), kam es zu einem persönlichen Conflicte, ein allgemeines Handgemenge stand zu erwarten. Unter diesem Tumulte setzte Dr. Herold seine Rede fort und führte sie auch zu Ende. Der jetzt wieder das Haus betretende Präsident Dr. Kathrein erklärte jedoch, angesichts der allgemeinen Erregung die Sitzung zu unterbrechen, um sich zu informiren. Nach viertelstündiger Pause verkündete dann Dr. Kathrein den Beschluß, die Fortsetzung der Sitzung auf den 20. October, 11 Uhr Vormittags, anzuberaumen. Damit war der Handstreich Ab r a h a m o v i c z' beseitigt und Dr. Herold zur Wiederholung seiner Rede am 20. October gezwungen. Die Vorgänge dieser Sitzung hatten die Linke noch mehr erzürnt und die Erbitterung sollte in der Sitzung vom 21. October in der Weise zum Ausdrucke gelangen, daß fortgesetzt namentliche Abstimmungen beantragt wurden, es waren bei Beginn der Sitzung bereits 21 augemeldet. Den eigentlichen Gegenstand der Tagesordnung dieser Sitzung bildete aber die zweite Ministeranklage wegen der obenerwähnten Egerer Vorgänge. Die Rechte berieth unterdessen mit dem Ministerpräsidenten über weitere Maßnahmen zur wirksamen Verhinderung der Obstruction; diese Berathungen führten zu einem Ergebniß, welches den Präsidenten des Abgeordnetenhauses Dr. Kathrein veranlaßte, am 26. October 1897 die Stelle eines Präsidenten des Abgeordnetenhauses niederzulegen. Die Rechte hatte sich nämlich mit der Regierung über Gewaltniittel zum Behufe der Durchbrechung der Obstruction geeinigt, und daran wollte Dr. Kathrein nicht theilnehmen. Darum seine Dentission, welche als ein Ausfluß von Ueberzeugungstreue uitd Charakterstärke auch auf der Rechten ihren Eindruck nicht verfehlte. — Der Rücktritt Dr. Kathreiu's war für die Rechte das Zeichen zur Demaskirung ihrer Batterien. Um die Obstruction zu überwinden, war zwischen der Regierung und der Rechten ein eigener Feldzugsplan vereinbart worden. Auf Grund desselben stellte in der Sitzung vom 27. October Ritter v. Jaworski den Antrag: „Das hohe Haus wolle beschließen, es seien von Donnerstag den 28. l. M. täglich Abendsitzungen abzu- halten, ausschließlich behufs Vornahme der ersten Lesung der Regierungsvorlage in Betreff des Ausgleichsprovisoriums mit den Ländern der ungarischen Krone." Unter großer Aufregung des ganzen Hauses und lebhaften Protesten der Linken beantragte dann Bicepräsident Dr. Kramar ganz im Sinne dieses Antrages Jaworski — der als solcher, weil er sich auf etwas Anderes als die nächste Tagesordnung bezog, nicht zur Abstimmung gelangen konnte — für die nächste Sitzung folgende Tagesordnung „Erster Gegenstand: Die Anträge auf Ministeranklagen wegen der Sprachenverordnungen; dann eine Unterbrechung und in der Abendsitzung ausschließlich das Ausgleichsprovisorium." Der Plan der Majorität sollte aber zu einem anderen Ziele führen, als dessen Schöpfer beabsichtigt hatten. Man hatte das Ausgleichsprovisorium durchzwingen wollen, hatte aber Sturm gesäet und sollte ihn auch ernten. Das erste Signal zum losbrechenden Unwetter gab eine heroische That des Brünner Abgeordneten Dr. Lecher, dem ersten Redner zum Ausgleichsprovisorium, der am 28. October auf Grund der von der Rechten erzwungenen Tagesordnung für die Abendsitzung zum Worte gelangte und eine neue Art der Obstruction einführle. Nicht weniger als volle zwölf Stunden währte die Dauerrede des Abgeordneten Dr. Lecher gegen den Ausgleich, eine Rede die — fast einzig in der Geschichte des Parlamentarismus — trotz ihrer Länge von rein sachlicher Bedeutung war. Am Abende des 28. October hatte die Rede begonnen und um 8 Uhr 40 Minuten des Morgens vom 29 October schloß Dr. Lecher dieselbe. Nur wenige, von der Linken erzwungene Pausen hatte mau dem Redner gegönnt, dem noch einige Collegen durch im- provisirte Reden die Zeit eroberten, wieder neue Kraft zu schöpfcu; die Rechte hatte zum Theile aus dem Sitzungssaals des Herrenhauses einen Schlafsalon gemacht, in welchem sievon den Mühen des Dr. Lecher ausruhte. Inzwischen aber hatte es seitens der Linken und der Socialdemokraten eine Fülle von Recriminationeu auf das Präsidium geregnet, die Pultdeckel waren in Bewegung gerathen, und gaben stellenweise ein Orchester ab, welches die Beifallssalvcti der Linken für Dr. Lecher noch übertönte, und dem Präsidium ein Vorspiel bot von dem, was in späteren Tagen kommen sollte. Dem Schlüsse dieser Rede war nach zweistündiger Unterbrechung eine geheime Sitzung und dieser am Abende wieder eine weitere öffentliche gefolgt, welche aber nach

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