Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1899

62 Und trotzdem zog wieder jener-rosige Hauch über das blasse, schöne Gesicht der Hausfrau, wenn auch nur flüchtig, wie der Kuß eines Sonnenstrahles. Der Gesanglehrer erschien und Dora begab sich in das Nebenzimmer, um das vorgeschriebene Pensum durchzunehmen. Die Mutter blickte sinnend in die Ferne und verfolgte mit Aufmerksamkeit den Flug der weißen, seidenen Gespinnste, welche langsam an dem Fenster vorüber- zogen. Marienfäden! Die fromme Volkssage glaubt, diese Abschiedsboten des geschiedenen Sommers fallen von dem Rocken der Jungfrau Maria vom Himmel zur Erde, wenn die Mutter Gottes für das Jesukind schneeiges Linnen spinnt. Die träumende Frau erinnerte sich aus den Tagen ihrer Kindheit dieser treuherzigen Sage, und friedsam umfing sie der poesievolle Zauber derselben. Aber da durchzuckte sie urplötzlich ein anderer Gedanke, der Gedanke an die zweite Bezeichnung dieser schimmernden Fäden. Altweibersommer! Sie murmelte das Wort halblaut vor sich hin, und es war ihr, als ob sich bei dem Klänge desselben ihr Herz zusammenkrampfen müsse, über dessen Zustand sie sich gewaltsam belügen wollte und das doch mit jedem Tage deutlicher sprach: „Du liebst ihn, du hast nie einen anderen geliebt!" Altweibersommer! Der grausame Sinn dieses Spottwortes kam ihr erst jetzt so recht zum Bewußtsein und es schien ihr, als sei es just für sie erfunden worden und als verhöhne sie der von den Landen Besitz ergreifende Herbst. War nicht dieser schöne, klare, aber trotz alles Sonnenscheines doch schon so kühle Tag, der, wie ein letztes Aufflackern im Blicke der sterbenden Natur, den rauhen Frost, den grauen Himmel, das traurige Hinsiechen von Wald und Feld bereits ahnen ließ, war er etwas anderes, als das getreue Sinnbild ihres eigenen Lebens? Eine Thräne des Mitleides mit sich selber erglänzte in den blitzenden Augen des schönen Weibes. Als willenloses Kind war sie von den Eltern, deren Anordnungen sie mit - stiller, selbstverständlicher Ergebenheit nachzukommen gewöhnt war, an einen Mann verheiratet worden, der ihr Vater hätte sein können und der sie auch immer als solcher behandelte. Eintönig und freudlos flössen für die junge Frau, deren Brust ein mächtiges Sehnen erfüllte, das keine Erfüllung fand, die Tage dahin an der Seite dieses ernsten, verschlossenen Mannes, welcher manchem alten, wurmstichigen Folianten viel mehr Aufmerksamkeit widmete, als seiner Frau. Und als er starb, da war der Blüthen- staub der Jugend verflogen. Und jetzt regte sich's urplötzlich I knospend in diesem Herzen, das stets jungfräulich geblieben, ein sprossender, klingender und singender Liebesfrühling erschloß sich im Herzen der Dreiund- dreißigjährigen. Altweibersommer! War es denn wirklich schon zu spät? War ihr Gang nicht noch immer so elastisch wie der ihrer Tochter, war ihr Antlitz weniger jugendfrisch, brannte in ihren Augen das Feuer der Lebensfreude nicht noch ebenso mächtig wie damals, da sie mit dem Mann an den Altar trat, der ihr Gatte wurde, ohne der Geliebte ihres Herzens zu sein? Muth und Zuversicht zogen wieder in ihre Brust, und ihr sanftes, von dem unwiderstehlichen Zauber der Hoffnung verschöntes Angesicht nahm einen Ausdruck der Entschlossenheit an, der ihr . früher stets fremd gewesen. Die ihr gegönnte Frist war eine kurze. In wenigen Tagen war die Beschäftigung, die den einzigen Entschuldigungsgrund für die häufigen Besuche des Professors Reinberg bilden konnte, beendet. Die Entscheidung mußte daher, wenn sie sich in dieser Zeit nicht von selber ergab, gewaltsam herbeigeführt werden.

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