Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1899

59 neu. Doch, mitten auf dem Geleise, daS dunkle Etwas, was war das? Großer Gott. Sein scharfes Auge hatte schnell einen unförmlichen Felsblock in ihm erkannt. Ein Bubenstück, ruchlose Hände hatten ihn hierhergewälzt, gemeiner, teuflischer Rache sollten Hunderte von Menschenleben vielleicht zum Opfer fallen. Horch, in der Ferne dumpfes Rollen. HimmlischeBarmherzigkeit — derSchnell- zug! Schon hörte man die Maschine keuchen. Er besann sich keinen Augenblick, gewandt, durch sein Abenteurerleben an jede körperliche Uebung gewöhnt, kletterte, schwang er sich hinab, oft bröckelte der steinige Grund unter seinen Füßen, oft hing er schwebend an einem Baumast, doch er kam vorwärts, das immer näher kommende Donnergetöse beschleunigte sein waghalsiges Thun, der glühende Wunsch, zu helfen, verlieh ihm Riesenkräfte. Nun noch ein tollkühner Sprung, taumelnd stand er neben dem Riesenstein, doch um die Biegung dampfte es keuchend heran, die glühenden Feuerungen sagten ihm, daß nur Secunden noch für das Rettungswerk ihm blieben, das er vielleicht mit dem Tode bezahlen müsse. Keinen Augenblick besaun er sich. Was lag an ihm? Sicherer Untergang lauerte ja auf Hunderte von ahnungslosen^ Menschen. Wie viele von ihnen dort hatten nicht daheim alte Eltern, liebende Gattinnen, kleine hilflose Kinder, die durch des Vaters Tod zu Waisen würden. Und was besaß er? Ein Vermögen, unredlich erworben, eine Schaar käuflicher Menschen, die eben so gern oder unlustig ihm wie einem Andern dienten. Vorwärts! Kein Besinnen. Er war ein starker Mann, und in diesem Augenblick setzte er sein ganzes Können ein. Auf dem Geleise stehend, stemmte er sich gegen den Block; langsam hob er sich, er wich. Seine Muskeln spannten sich zum Zerspringen, nur noch wenig Ellen Entfernung; beißend drang ihm der weißstockige Rauch in Augen und Lunge. Noch ein Ruck, dumpf polternd rollte der Stein zur Seite. Die Bahn war frei. Ja, sie war frei. Hunderte, die ahnungslos den: Verderben entgegengerollt, waren gerettet, dem Leben, den Ihren wiedergeschenkt. Eine kurze Strecke weiter wurde der Zug zum Stehen gebracht. Hart neben dem Schienenstrang fand man das fort- gewälzte Felsstück und dahinter bewußtlos, aus einer klaffenden Kopfwunde blutend, einen großen, breitschulterigen Mann, der, um das Leben Hunderter zu retten, das eigene helden- müthig eingesetzt Im Städtlein verbreitete sich schnell die Kunde, der Gottesdienst war gerade zu Ende. Neugierig strömte die Menge hinzu, der Sonntag-Vormittag gab ja Zeit zum Gaffen. Man stand umher, zischelte untereinander, berieth. Einige entsannen sich, in den Frühstunden den Fremden durch die Straßen wandern gesehen zu haben, darunter der Provisor, der ihn um seines eleganten Reisecostüms wegen beneidet hatte. Er leistete auch die erste Hilfe, legte den Nothverband an und rieth, auf schnell geflochtener Trage den Verwundeten ins Lazareth zu schaffen. „Erst die Identität feststellen," entschied der herbeigeeilte Bürgermeister. Man durchsuchte den Fremden, staunte über die mit ausländischen Banknoten gefüllte Brieftasche, das schwere Portemonnaie. Endlich fand man den Paß. Großhändler Bob (Robert) Heider, Stambul. Verblüfft sah man sich an. Heider! Heider! So hieß ja der alte Justizrath, den noch Alle gekannt! Auch der schwer- müthigen, gütigen Frau erinnerten sich noch Viele. Und wie war es denn gewesen? Hatten die Beiden nicht einen einzigen Sohn besessen? Einen vex- schollenen, ewig betrauerten? Gewiß. In der Menge wurden Stimmen laut. Robert hieß der ja, man

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