Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1899

55 Er starrte darauf hin, auf die wilde Brennnessel, auf das Unkraut aller Art, unter welchem die Herzen in Staub zerfallen waren, die ihn so heiß, so unverdient geliebt hatten. Zehn Jahre früher, und er hätte eine liebe, warme Hand noch fassen, die Bitte um Vergebung stammeln können. Zehn Jahre! Damals trug Cecile seinen Namen und sie und Papa Cailleron hatten ihn einmal nach seiner Herkunft gefragt. Er antworte ausweichend. Nimmermehr konnte er zu diesen Beiden sprechen von der reinen, schönen Luft des Vaterhauses. Nun schliefen sie Alle, der Eltern Frage nach seinem Weibe brauchte er nicht mehr zu fürchten. Für ihn, den Millionär, gab es überhaupt nichts mehr zu fürchten auf der Welt, aber auch wohl nichts mehr zu hoffen. Müde, wie gebrochen, sank der große, schwere Mann auf das morsche Holz- bänklein zur Seite des Grabes. „Die lange Nachtfahrt, der ungewöhnlich heiße Morgen," tröstete er sich. Warum konnte er den Blick nicht wenden von dem weiten, lachenden Thal dort unten, von der schwarzgrünen Berglehne, über welche friedlich die Sonntagsglocken klangen. „Ans Vaterland, ans theuere, Schließ Dich an. Das halte fest mit Deinem ganzen Herzen!" War es ihm nicht, als höre er deutlich die Stimme des alten Classenlehrers. Damals freilich hatte er des Männleins mit seiner altmodischen Begeisterung gespottet. Und heute? Heute hätte er freudig seinen ganzen Reichthum, den Rest des Lebens dahingegeben, um ein Ideal. Ja, eine Idee, eine Großthat! Das könnte die Brust befreien, das Herz weiten. Wie süß die Vöglein zwitscherten, wie sanft die Kirchenglocken zur Andacht lockten. Und hier innen Alles so kalt, so öde. Schauerlich!------- — Horch, schlürfende Schritte! Richtig, den breiten Mittelweg herauf kam mühsam ein alter Mann im abgeschabten Röcklein und blieb, nach einem nen- zierigen Blick auf den Fremden, den wohl die schöne Aussicht heraufgelockt, neben diesem an den Gräbern stehen. „Wie hoch hier wieder alles Zeug ins Kraut geschossen ist," meinte er kopfschüttelnd. „Wenn der Herr Rath das sehen könnte! Der litt kein welkes Blättlein in seinem Garten." „Sie sind wohl der Todtengräber?" „Ach nein, der ist unten zum Hochamt und geht dann sicher in's Wirthshaus, bei uns zu Lande ist es so der Brauch. Weil die Sonne gar so warm schien, bin ich heraufgekommen, um 'mal hier bei deu Gräbern etwas nach dem Rechten zu sehen. Es kümmert sich ja sonst auf der Welt kein Mensch mehr darum." „Und Sie haben die stillen Schläfer hier unten gekannt?" „Ob ich sie kannte! Habe ich doch fast dreißig Jahre lang der Herrschaft Brot gegessen und ihr immer treu gedient. Ich war nämlich so lange erster Schreiber, Bureau-Vorsteher neunen sie es ja jetzt, beim Herrn Justizrath Heider." Mit einem Ruck zog der Fremde den Hut tiefer in die Stirn. Der alte Krause! Unmöglich! Diese gebückte, hüstelnde Rnine, der wohl- conservirte Fünfziger, auf dessen Knie er als Kind geritten, und der manchen übermüthigen Streich dem strengen Vater verschwiegen. „Zehn Jahre schläft er nun schon hier," fuhr der Alte geschwätzig fort, „und die Frau begruben wir noch früher. Aber Alles steht mir noch so lebhaft vor Augen, als sei es gestern gewesen. Wenn sie mit ihrem schwarzen Atlaskleid, mit der Sammet-Mantille in die Kirche oder in ihr Kaffeekränzchen ging, schaute ihr Alles respectvoll nach, die schönste, vornehmste Frau des Städtchens. Und dann solch ein Ende! Weil sie sich von aller Welt abschloß und auch ihr Haus nicht mehr verließ, sagten die Leute, es sei zuletzt nicht mehr recht richtig mit ihr im Kopfe gewesen, aber wir wissen es

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