Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1899

54 noch immer lüfteten die Vorübergehenden nach altem, frommen Brauch den Hut vor dem steinernen Heiligenbilde. Alles noch wie sonst! — Nun mußte er aber doch nach der anderen Seite blicken. Dort, das einstöckige Häuschen mit den grünen Läden und der breitästigen Kastanie vor den Fenstern war sein Vaterhaus gewesen. In der ehemaligen Wohnstube stand ein Fenster offen, man hantirte dort mit Staubtuch und Besen. Wie mit übernatürlicher Gewalt zog es ihn näher. Schimmerte dort hinter den Scheiben nicht der Mutter liebes Gesicht? Erklang nicht im Flur des Vaters tiefe Stimme? Alles Täuschung. Auf einer Südseeinsel war er nicht fremder als hier. Durch das Seitengäßchen an der Giebelwaud war er oft über den Hof ins Haus geschlichen wenn er das strenge Vaterauge gescheut hatte Auch heute ging er diesen Weg. Hinter der Mauer schimmerte es grün Hoch aufathmend hielt er inne Das war er, der kühle, schattige Garten, von dem er unter dem fremden Himmel manchmal mit offenen Augen geträumt, nach dem er sich noch gestern, inmitten von Staub und Hitze, wie ein Verschmachtender gesehnt hatte. Die Linde blühte, die Zentifolie duftete und im Morgenwind schwankte leise die stolze, weiße Lilie. Alles noch wie einst, doch dort drüben, an dem altersgranen Steintisch die Frau, nicht so schön und stattlich wie die Mutter, war eine Fremde, und jene Kinder, die sich jubelnd hinter grünemBnschwerk versteckten, gehörten jetzt hieher. Doch draußen an der Mauer stand er, ein Ausgestoßeuer, einer, der frevelnd einst gemeint, ohne Liebe, ohne Familien- bande ließe es sich leben in der Welt, ein Reicker, und doch der Aermsten einer. „Siehe doch, Mama, ein fremder Herr; was mag er wollen?" Ein Knabe rief es. So keck und dunkeläugig mochte er früher wohl auch gewesen sein. Da zog er den Hut tief in die Stirn und wanderte weiter. Wie mit Flammenschrift stand vor seinen Augen der Auf- - ruf, der sich dann noch oft in den ausländischen Zeitungen wiederholte, jener Aufruf, in dem seine trostlosen Eltern ihren flüchtigen Sohn Robert beschworen, zu ihnen heimzukehren. Damals war noch . sein Herz mit Wuth und Trotz erfüllt, das wilde Abenteurerleben gefiel ihm. Später hielt ihn falsche Scham zurück, ■ als Lump vor sie hintreten, niemals! Und dann war Alles zu spät. „Zu spät!" Schreckliches Wort. Er glaubte, die Vögel über seinem Haupt zwitscherten es ihm zu, er meinte es an der Kirchhofspforte zu lesen, die jetzt sein Fuß betrat. Hier faud er die meiste Veränderung. Bis ins Unabsehbare waren die grünen Reihen angewachsen, Hügel an Hügel, ein weites, stilles Leichenfeld. Ja, Schnitter Tod hatte unten im Städtchen reiche Ernte gehalten, darum kein bekanntes Gesicht auf der Gasse. Die Alten waren längst dahin, die Jungen von damals alt und fremd geworden. Sein Blick glitt spähend umher, und doch fürchtete er den kommenden Augenblick. War der leichte Staubmautel so schwer? Trug er Blei in den Schuhen? Er lüftete den Hut, um die feuchte Stirn zu kühleu. Noch uie war ihm auf beiden Erdtheilen ein Weg so laug und schwer geworden. Nun lag das Armenviertel, die lange, ungeschmückte Gräberreihe hinter ihm, nun näherte er sich der Kirchhofmauer mit den stattlichen Erbbegräbnissen. Jenes weiße Marmorkreuz, umfriedet von eisernem Gitter, war früher nicht dort. Ach, wehrte ihm nicht der zürnende Engel mit dem Flammenschwert den Eintritt? Nein, es war die Morgensonne, die sich funkelnd in der goldenen In- ; schrift brach. Nun lehnte er schwer gegen die kalten, eisernen Stäbe, und während seine Augen sich umflorten, las er langsam und deutlich, Wort für Wort: „Ruhestätte des Justizrathes Joses Heider und seiner Ehegattin Hedwig, geborne Pitsch."

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