Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1899

gehüllt, vor ihm, die endlosen, menschen- wimmelnden Straßen. Die Pferdebahn klingelte, hoch beladene Omnibusse schwankten einher und Alles stieß, drängte, hastete aneinander vorüber. Obgleich augenscheinlich ein Fremder, hatte er für das bunte Straßengewirr kaum einen neugierigen Blick. Paris, Ncw-Aork, London; im Grunde sah doch eine Riesenstadt der anderen gleich. Er winkte einem Tramwaywagen. Als er nun eingekeilt zwischen Arbeitern, Commis, Ladenmädchen stand, mußte er unwillkürlich lächeln. Was würde doch seine türkische Dienerschaft bei dem Anblick ihres gestrengen Effendi sagen? Es dunkelte bereits, als er nach langer Kreuz- und Querfahrt sein Hotel erreichte. Unmuthig schüttelte er den Kopf, als er den bequemen Fahrstuhl betrat, der ihn mehrere Stockwerke hinauf, nach der eleganten Zimmerflucht brächte, die er Geschäfte halber seit fast einer Woche bewohnte. „Als ob man hundert Jahre alt wäre, oder gelähmte Glieder hätte," murmelte er, und dann gedachte er regenfeuchter, ausgetretener Steinstufen vor einerHausthür, einer knarrenden, schmalen Holztreppe, die hinaufführte zu dem freundlichen Giebelstübchen, das er, ein trotziger Knabe, in ungebändigter Wildheit heimlich des Nachts verlassen, aus Nimmerwiederkehr. Undeutlich, wie im Nebel, tauchten die Verhältnisse, die ihn damals aus Elternhaus und Vaterland vertrieben, vor ihm auf. So etwas verwischt die Zeit. Aber, daß Vater und Mutter einsam, kinderlos dahingegangen waren, ohne daß er in ihren brechenden Augen Verzeihung gelesen hatte, das war eine Wunde, die die Reue ätzend offen hielt. Wieder diese Erinnerung! Seitdem er deutschen Boden betreten, ließ sie ihn nicht los. Wie heiß es hier drinnen war, zum Ersticken! Er lüftete die Halsbinde, ohne doch freier athmen zu können. Stürmisch öffnete er die breiten Fensterflügel und trat auf den Balcon. Auch hier dieselbe dumpfe, athemraubende Schwule, dazu der Staub und Straßenlärm. Wie der Kopf ihm wie im Fieber brannte! Unruhig ging er auf den warmen Steinplatten hin und her; die Sonne mochte wohl den Nachmittag hier gelegen und eine Nachwirkung ihrer Gluth zurückgelassen haben. Nun stand über den „süßen Wassern" groß und silbern der Mond am tiefblauen Himmel, den Magnolien und dem Rosenlorbeer entstieg berauschender Duft, aber seine Gärten waren einsam und die Gesichter seiner türkischen Diener so dunkel und ernsthaft wie die Chpressen, um deren Stamm sich träumerisch die wilde Mandelblüthe schlang. Dorthin sehnte er sich nicht, nein, dorthin nicht. Sein Auge verlor sich in die Weite, als suche er hinter den hohen Thürmen und Riesenbauten etwas Bestimmtes, dem er nur nachzugehen brauche. Unwillkürlich hob sich die breite Brust. Welche Wonne, diese laue, sternenklare Sommernacht in einem richtigen, altmodischen, deutschen Garten unter blühenden Linden und leise duftenden Centifolien zu verbringen! Gab es überhaupt noch solche Gärten auf der Welt? Ueberall gasflimmernde Restaurants, verkümmerte Bäume, fade Teppichgärtnerei! Wieder folgte sein Blick den schnell segelnden Abendwolken. Vielleicht trafen sie auf ihrem Zuge jeuen Garten tief in den Bergen. Unmuthig fuhr er auf. Träumereien im Mondschein, die paßten wohl schlecht zu ihm und dem wilden Leben, das hinter ihm lag. Im Zimmer respektvolles Klopfen. Der Oberkellner brächte Briefe, Depeschen für den Großkaufmann Robert Heider aus Conftantinopel, zur Zeit Hotel Kaiserhof. , , Hastig öffnete er sie, und ein Schimmer von Befriedigung erhellte sein finsteres Gesicht. Die Krisis war abgewandt, seine Firma stand fester denn je, ja, dem

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