Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1898

26 der Gesellschaft vor. Nachdem er sich eingehend unterrichtet und Alles in Ordnung gefunden hatte, versprach er mir, bei seiner Direction die sofortige Anweisung des versicherten Betrages von 20.000 Mark zu veranlassen. Noch an demselben Abend telegraphirte er mir aus Köln, daß das Geld abgegangen sei. Frau Lavalle begleitete ich bei ihrer Abreise zum Bahnhöfe. Ein tiefes Mitgefühl ergriff mich, als ich sie gramgebeugt und weinend in den Zug steigen sah, und ich bezweifelte im Stillen, daß die gebrochene Frau der langen und beschwerlichen Reise mit dem Todten gewachsen wäre. Kurze Zeit darauf schrieb sie aus Antwerpen. Sie theilte mir mit, daß sie ohne Zwischenfall dort angekommen sei, und daß die Beerdigung stattgefunden habe. Gleichzeitig dankte sie sür meine Hilfeleistungen. Wir wechselten noch zwei Briefe und dann schien es, als sollte ich weiter nichts mehr von ihr hören. Drei Jahre später wurde ich in eine große süddeutsche Residenzstadt berufen, wo mir ein größerer Wirkungskreis be- schieden war. Einige Monate nach meiner Ueber- siedlung, an einem feuchten nebligen Novembertage, hatte ich eine Begegnung, die das Blut in mir erstarren machte Der dicke gelbliche Nebel gestattete kaum, daß man einen Begegnenden auf drei Schritte erkennen konnte, ich konnte daher einen Mann, der mich beim Vorübergehen streifte, nur flüchtig ansehen, aber sein Anblick rief das größte Entsetzen in mir hervor: das längliche Gesicht, die blauen, schwermüthigen Augen, die schmalen Schultern, kurz die ganze hohe Gestalt, war die meines verstorbenen Freundes Lavalle. Nachdem ich mich von der ersten Bestürzung erholt hatte, eilte ich dem Manne nach, um mich zu vergewissern, ob meine Augen mich etwa getäuscht hätten. Die Erscheinung aber war verschwunden. Ganz verstört ging ich nach Hanse. Vor Aufregung über das unheimliche Zusammentreffen konnte ich die nächste ganze Nacht kein Auge schließen. Auch am folgenden Tage kam mir der räthsel- hafte Vorfall nicht ans dem Sinn. Ich mußte mir unter allen Umständen Aufklärung verschaffen. Zunächst schlug ich das Adreßbuch nach: der Name Lavalle fehlte. Auch eine Anfrage bei der Polizei war resnl- tatlos, da eine Person dieses Namens nienials angemeldet worden war. Nach längerer Ueberlegung beschloß ich, meine Amtsbrüder aufzusuchen, einen nach dem anderen, und ihnen die Photographien des Lavalle'schen Ehepaares, die ich noch in meinem Album fand, vorzulegen — vielleicht kam ich auf diese Weise der Sache auf den Grund. Hatte ich einen nahen Verwandten des Verstorbenen gesehen, oder lag hier ein seltsames Spiel der Natur vor, die in jenem Manne, der mir begegnet war, einen Doppelgänger Lavalle's geschaffen hatte? Als Ersten besuchte ich den Pfarrer Wangenheim von der St. Andreasgemeinde — hatte mein Zusammentreffen mit der räthselhaften Erscheinung doch in der Nähe der St. Andreaskirche stattgefunden. Nach kurzer Begrüßung ging ich auf den Zweck meines Besuches ein. „Erkennen Sie vielleicht, lieber College, in dieser Photographie ein Mitglied Ihrer Gemeinde?" fragte ich, indem ich Lavalle's Bild vorzeigte. „Gewiß, gewiß! Das ist ja Herr Durallois, nicht wahr?" „Und diese Dame?" fragte ich weiter, die Photographie der Frau Lavalle hinhaltend. Nun, natürlich! Das ist Frau Durallois, sogar sehr gut getroffen. Aber warum fragen Sie?" „Es handelt sich um die Lösung eines geheimnißvollen Räthsels," erwiderte ich. „Würden Sie mir wohl erzählen, was Sie über die Familie wissen?"

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2