Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1898

25 Herr Lavalle war schon seit zwanzig Minuten todt, als ich aulangte. Ich habe dort nichts mehr zu thun, und komme nur, um Sie zu holen." „Ich danke Ihnen, Doctor. Ich gehe sofort. Es ist ein furchtbarer Schlag für die arme Frau." „Und, offen gesagt, ich war darauf gar nicht gefaßt." „Woran ist er eigentlich gestorben?" „Ein Herzleiden, ich erzählte Ihnen schon vor einigen Tagen davon. Aber sparen, daß der geliebte Todte angetastet wird. Sie war stets in rührender Zärtlichkeit um ihren Mann besorgt." Dr. Hoher empfahl sich und ich eilte sofort zu Frau Lavalle. Stumm und regungslos kniete sie vor der Leiche, aufgelöst in Thränen, ein Bild des Jammers und der Verzweiflung. Meine tröstenden Worte schien sie nicht zu hören. Im Laufe des Tages suchte ich sie nochmals auf. Jetzt gelang es mir, sie soweit aufzurichten, daß sie sich herbeikeinen Augenblick ist mir die Möglichkeit eines tödlichen Ausganges auch nur in den Sinn gekommen. Im Interesse der Wissenschaft wäre die Obduction der Leiche erwünscht; aber die Witwe ist selbst leidend, und ich möchte die Verantwortung nicht auf mich nehmen, ihre Aufregung noch zu steigern." „Wenn nicht zwingende Gründe vorliegen," meinte ich, „so ist es wohl Menschenpflicht, von der immerhin das Gefühl der Pietät verletzenden Secirung der Leiche Abstand zu nehmen und der tiefgebeugten Frau den Schmerz zu erließ, wenigstens ihre wichtigsten Angelegenheiten mit mir zu besprechen. Sie hatte keine Verwandten in Deutschland. Ihre Mutter und ihre Schwester lebten in Belgien. Ihr Gatte hatte bei Lebzeiten stets den Wunsch geäußert, in seiner Vaterstadt Antwerpen an der Seite seiner Eltern begraben zu werden, und die Witwe war bedacht, diesen Wunsch zu erfüllen. Auf ihre Bitte schrieb ich auch au die Versicherungsgesellschaft, gab alle nöthigen Aufklärungen und fügte die nöthigen Papiere bei. Am nächstfolgenden Tage stellte sich mir ein Beamter

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