Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1898

Eine geheimnisvolle Begegnung. Aus dem Tagebuche eines Pfarrers von Ii. Kanow. Nachdruck verboten. nie zugeben, daß ihm etwas fehlt. Wenn ich in ihn dringe, einen Arzt zu befragen, wird er ärgerlich. Wollen Sie, Herr Pfarrer, vielleicht mit ihm sprechen und ihn dazu bewegen?" Ich versprach es ihr bereitwillig und klopfte gegen Abend bei ihrem erkrankten Gatten an. Ohne ihn: merken zu lassen, daß Frau Lavalle mir bereits etwas über seinen Gesundheitszustand gesagt hatte, erklärte ich ihm, daß ersehn leidend aussehe, und ich rieth ihm dringend, einen Arzt zu Rathe zu ziehen. Herr Lavalle machte ein recht verdrießliches Gesicht, versuchte aber mit ausgesuchter Höflichkeit gleichgiltig zu lächeln. „Ihre Fürsorge um mein körperliches Wohl rührt mich, Herr Pfarrer, ich glaube aber nicht, daß mein Befinden zu ernsten Bedenken Anlaß bieten kann. Ein vorübergehendes Gefühl der Mattigkeit — was will das sagen? Es kann auf keinen Fall etwas von Bedeutung sein, habe ich doch erst vor zwei Monaten mein Leben versichern lassen. Man hat mich unbedenklich angenommen, der Vertrauensarzt der Versicherungsgesellschaft muß mich also doch für vollkommen gesund erklärt haben!" „In zwei Monaten kann sich aber manches ändern," wandte ich ein. „Glauben Sie mir, Herr Lavalle, Sie sind es sich und Ihrer Frau Gemahlin schuldig, unverweilt den Rath eines Arztes zu hören." Er überlegte einige Minuten. Dann sprach er: „Sie haben Recht, wie immer, Herr Pfarrer. Die Rücksicht auf meine Frau macht es mir zur Pflicht, die üblichen Schritte zu thun, wenn ich mich nicht ganz wohl fühle, so unbedenklich nun auch mein Gesundheitszustand mir selbst erscheint. Offen gestanden, ich möchte Hachdem ich fünf Jahre lang in einem kleinen Orte der Rheinprovinz meines geistlichen ______Amtes gewaltet hatte, wurde mir eine Pfarrstelle in einer Stadt nahe der belgischen Grenze übertragen. Unter meinem Vorgänger, der kurz vorher in hohem Alter gestorben war, hatte sich bei den Bewohnern des Kirchspiels eine gewisse Gleichgiltigkeit gegen kirchliches Leben eingefchlichen. Bald aber fand ich, daß manche unter den Mitgliedern der Gemeinde nur des guten Beispiels und der Anregung bedurften, um willige Mitarbeiter ihres Seelsorgers zu werden. In kurzer Zeit gelang es mir, eine Anzahl von Getreuen um mich zu schaaren, und bald hatte ich die Genugthuung, daß das Interesse für kirchliches Leben und Bethätigung christlicher Nächstenliebe in immer weiteren Kreisen lebendig wurde. Zu meinen eifrigsten Mitarbeitern gehörte ein Ehepaar Namens Lavalle, welches etwa gleichzeitig mit mir in die Stadt gezogen war und anscheinend von den Zinsen eines nicht nnbedeutenden Vermögens in beschaulicher Unabhängigkeit und Behaglichkeit lebte. Frau Lavalle war eine kleine bewegliche Dame mit energischem Gesichtsausdruck, die am glücklichsten war, wenn sie mir bei der Armen- und Krankenpflege beistehen konnte. Ihr Gatte war nicht minder eifrig, aber von ruhigerer Natur. Seinem Aussehen und seinen Gewohnheiten nach machte er den Eindruck eines Gelehrten. Ungefähr sechs Monate nach meinem Amtsantritt wurde Herr Lavalle von einer leichten Unpäßlichkeit befallen. Seine Frau war hierüber sehr beunruhigt und schüttete mir ihr Herz aus. „Alfons ist sehr empfindlich," klagte sie mit bekümmerter Miene, „und will

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