Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1898

12 „Hab' ich Augen und brauch' ich Augengläser? Gott sei Dank, was ich seh', das seh' ich!" Der Vinceuz am nächsten Tische stand auf und wankte nach der Thür. Mehrere Burschen sahen sich betroffen an; aber keiner sagte etwas und keiner folgte ihm. Der Sepp zitterte am ganzen Körper, er war fast grauenhaft in dem Zwielicht und Rauchnebel anzusehen. Da tönte das dreimalige Rufen des Nachtwächterhorns in die Wirthsstube herein, und der Nachtwächter selbst rief: „Die Gendarmen passiren gleich da vorbei — schon über Sperrstund'!" Der Wirth tummelte sich zwischen die Gäste, räumte Krüge ab, Einzelne verloren sich, Andere thaten rasch einen letzten Zug und legten das Geld hin. Der Lärm legte sich, und die Wirthsstube war nach kurzer Zeit leer. Im Thale zerstreute sich Alles und suchte seine heimische Thür. Draußen im Dunkeln trafen sich Sepp und Vincenz. Der Bursche lehnte sich plötzlich auf die Schulter des kleinen Vetters und schluchzte heftig. Dieser sprach allerlei, knirschte auch mit den Zähnen und tröstete. Vincenz war wie zu Tode krank. Sie gingen Beide eine Strecke miteinander, dann trennten sie sich auf einem Kreuzwege. Sepp schüttelte seinem Schwestersohn die Hand, die dieser tranrig hängen ließ und nur langsam beim Fortgehen wegzog. * * Den anderen Morgen war Sepp doch zeitlich und der Erste auf. Der Professor zögerte auch nicht lange und kam mit den ersten Sonnenstrahlen ans derParade- stube heraus. Er war ein hübscher, schlanker Dreißiger mit feurigem Auge und einem freundlichen Gesichte, derselbe, der Rosi schon beim Einzüge so freundlich und unermüdlich bekränzt hatte. Der Zierthaler fehlte anch nicht, und im Freien ward gefrühstückt. Rosi cre- denzte. Dem Professor lachte das Herz, und er verhehlte es nicht; aber es ging Alles im scherzhaften Ton. Der Professor sprach vom natürlichen Milchzucker in der Milch, und daß die Stallfütterung weit vvrtheilhafter als die Weide sei. Der Zierthaler bat in aller Höflichkeit, der Professor möge ihn nicht herausfordern, grob zu sein. Er möge sich's schmecken, aber die Leute das Vieh füttern lassen, wie der liebe Gott es seit ewiger Zeit füttert. „Aber der liebe Gott hat keine Ställe gebaut," erwiderte der Professor. Und so kamen sie in Disput. Der Zierthaler sprach, „daß Adam als Bauer geschaffen worden sei von Gott, und nicht in der Stadt als Professor", er war höflich und doch grob, stellte dem Stadtherrn sein ganzes Haus, aber nicht einen Winkel von seinem Gehirnkasten zu Verfügung. Der Professor meinte endlich, „der Zierthaler werde nicht Ruhe lassen, bis er Wasser auf dem Steinfelde, eine Kohlengrube im Hanse und die große Wiese in einem Tage umgebrochen habe". Der Zierthaler lachte und sagte: „Ja und noch weiters, bis mir Klee auf der flachen Hand wächst." Dann setzte er fast erbost hinzu: „Daß die Stadtherren doch immer gescheiter sein wollen als wir!" und ging kopfschüttelnd davon. Aber des Abends, als für die Knechte gekocht war, nahm Rosi ihr Gebetbüchlein und ging davon. Kaum, als sie zwanzig Schritte von dem Gehöfte war, hatte Sepp einen Einfall iiber ein Kerbholz für den Kalkbauer, das er an einer Stelle im Gebüsche gestern verloren zu haben vorgab und das er noch vor Nachteinbruch suchen müsse, denn der Kalkbauer wolle morgen rechnen. Er schlug einen anderen Weg als Rosi ein; er kletterte und rutschte und schob sich oben durch das Buschwerk auf der Höhe, immer dort durch, wo er Rosi sehen konnte. Sie wandelte hin wie ein Engel. Mit dem Gebetbüchlein zwischen den gefalteten Händen vor der Brust, sah sie im Abeudroth, das ihrer Wangen Gluth vergoldete, ans, wie eine Heilige, die

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