55 „Das sollen Sie! Sehen Sie, Herr Assessor — es ist ein altes Sprichwort: in einem Staate von Dieben muß man selbst ein Dieb sein — und in einer Gesellschaft, die, wie die unserige, ihre vorgefaßten Meinungen hat, an denen sie festhält, muß ein Einzelner seine Grundsätze den Ansichten dieser Gesellschaft unterstellen, wenn er in Ansehen bleiben will!" „Wäre es möglich, Herr Rath — Sie, den ich als väterlichen Freund hoch schätze, Sie, dessen Gesinnung, dessen Seelenadel ich kenne, Sie können einen offenbarenTodtschlag, eine frivoleSpielerei niit dem Leben billigen?" „Was wollen Sie, es handelt sich hier weder um meine, noch um Ihre Ansichten, sondern um Ihre Stellung in der Gesellschaft. Ihre Ansichten theile ich vollkommen, denn ich bin ebenfalls Gegner des Duells — aber es ist doch so, wie ich Ihnen soeben erklärte." Werner hatte sich erhoben, er durch- maß erregt das Zimmer. „Ich konnte nicht anders handeln, Herr Rath. Hören Sie meine Gründe: Ich stehe im Dienste des Gesetzes, und im § 201 des Strafgesetzbuches ist der Zweikampf verboten. Man verlangt Gerechtigkeit und Unparteilichkeit von mir, was mein Amt betrifft; andererseits sieht man es auch nicht ungern, wenn Staats- dieuer Reserveofficiere sind. Die Ansichten des Gesetzbnches aber über die Herstellung verletzter Ehre und die der Officiere über denselben Punkt gehen weit auseinander. Wie soll nun juristische Gerechtigkeit und juristischer Ehrbegriff sich dem lächerlichen Ehrencvdex des Officiers gegenüberstellen, ohne die Ansichten einer Partei zu verletzen? Die zartfühlende vornehme Gesellschaft, die mit Schaudern und Entsetzen vor irgend einer tüchtigen Prügelei der Arbeiter zurückweicht und die Roheit dieser Patrone, wie sie verächtlich meint, nicht begreifen kann, sagt sie sich nicht, daß ihre Duelle verdienten, ebenso verächtlich angesehen und behandelt zu werden, wie die anderen rüpelhaften Prügeleien? — So, Herr Rath, das sind einige Gründe, die mir verboten, den Zweiknmpf auzu- nehmen; von meinen Kiudespflichten, die ich damit erfüllte, gar nicht erst zu reden." „Ich sagte Ihnen schon, Assessor, Ihre Gründe sind richtig; aber Sie schaden sich. Sie verkennen die Macht der Gesellschaft! Unsere moderne Gesellschaft aber ist allmächtig! Wahrheit ist ihr Lüge und Lüge Wahrheit. Darum nochmals: nnterschätzen Sie die Macht der Gesellschaft nicht! Sie wissen, es ist nicht gut, wenn Einer gegen den Strom schwimmen will. Ich an Ihrer Stelle hätte das Duell augeuommen! Sie wollen das nicht; da kann ich Ihnen mir rathen, kommen Sie um einen längeren Urlaub ein und gehen Sie so lange weg von hier, bis Gras über die Geschichte gewachsen ist! Sie können sich nicht halten, ohne angegriffen zu werden." Dem Assessor jagten die Worte des Amtsgerichtsrathes das Blut stürmisch durch dieAderu; fast höhnisch fragte er jetzt: „Wollen Sie mir nicht lieber gleich rathen, ich möchte meine Versetzung beantragen, Herr Rath?" „Das Beste wäre es allerdings für Sie, Herr Assessor." Der Amtsgerichtsrath hatte sich erhoben; er bemerkte, es sei Zeit zum Gehen. Werner begleitete den alten Herrn bis zur Thüre. „Leben Sie wohl, Assessor, und nichts für ungut; ich bedauere Sie wirklich." Am nächsten Tage, um die von dem Commercienrath angegebene Zeit, befand sich der Assessor bei Herrn von Holm im Empfangssalon. Zum großen Leidwesen Werner's war Elsa nicht gegenwärtig; sie sei durch allerhand kleine Pflichten verhindert, zu erscheinen, sagte ihr Vater, dessen Haltung und ganzes Benehmen dein Assessor gegenüber heute so kühl und förmlich war, daß dieser sich unbehaglich zu fühleubegnun. Und nun kam es.
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