Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1898

38 welches nach seinem Ableben unverkürzt der jungen Witwe zufallen soll. Baron von Vieregg berücksichtigte bei seiner Zn- stimmnug dieses ebenso wie den hohen Rang des Bewerbers und die Annehmlichkeiten seiner bevorzugten Stellung in Berlin. Barbara hatte dagegen, wie ihre Schwestern, da die Besitzungen Baron Bieregg's ein Lehen waren, von Hause aus nicht viel zu erwarten. Trotz dieser Erwägung waren die Eltern weit davon entfernt, das junge, unerfahrene Mädchen zu diesem fürs Leben entscheidenden Schritt zu überreden. Barbara entschied selbst und willigte zur allseitigen Verwunderung und zum größten Entzücken Otterstcin's ein, seine Gattin zu werden. Sie hatte für den um fast 40 Jahre älteren Mann wirkliche, wahre Zuneigung gefaßt. Die Hochzeit wurde für den Herbst bestimmt, und hinsichtlich der Wohnungsund Aussteuerfrage reisten die Baronin und Barbara einige Wochen später, nachdem der glückliche Verlobte sie verlassen, nach Berlin. In der Uckermark besaß der einzige Bruder der Baronin Vieregg, Oberst von Donnersberg, ein hübsches Landgut, wo selbst man einige Tage zn verbringen die Absicht hatte. Dienstgeschäfte halber konnte General von Otterstein die Braut nicht dorthin begleiten. Beim Eintreffen der seltenen Gäste in Lützow kam auf der breiten Freitreppe des Schlosses der Oberst den Damen entgegen, und in väterlicher Weise umarmte er die holde Braut mit den Worten: „Du bist das vernünftigste Mädel unter der Sonne, Barbara! Von Dir weiß ich, hast Du einmal A gesagt, wirst Dn auch B sagen, das heißt, Du wirst unseren lieben Otterstein, den wir alle hoch schätzen, glücklich machen." Noch ehe die Angeredete zn antworten vermochte, fielen ihre Blicke anf einen hinter dem Onkel stehenden jungen Mann, dessen schönes, etwas bleiches Antlitz und hohe Gestalt durch die kleidsame Uniform der deutschen Marine besonders gehoben wurde. Ein Paar tiefblaue, seltsam fragende Augen trafen die ihrigen. Mit dunkler Purpnrglnth über- gossen, vermochte sie nur einige nichtssagende Phrasen zn stannneln und hielt, bis man ins Schloß getreten war, den Kopf gesenkt. „Das ist Nikolaus Graf Lieven, Lieutenant zur See anf Sr. Majestät Schiff .Nivbü, mein Pflegesvhn!" sagte der Oberst vorstellend. „Leider ist das der letzte Tag seines Urlaubes, da er sofort nach dem Mittagessen aufbrechen und zur Bahnstation fahren muß. Ich freue mich sehr, die kurze Zeit zu Eurer gegenseitigen Bekanntschaft ausnützen zn können!" Bei Tische saß Barbara neben dem Marinc-Officier, dessen Blicke den ihrigen wohl öfters begegneten, aber zu keiner anregenden Unterhaltung führten; nur wenige Worte waren zwischen diesen beiden jungen Menschen gewechselt. Nach auffallend raschem, fast hastigein Abschiede war Graf Lieven in des Onkels Equipage davongefahren; in Barbara aber trat plötzlich ein schmerzliches Gefühl der Verlassenheit auf; die bisher ihr in rosigem Lichte vorgeschwebte Zukunft erschien ihr nun von einer schwarzen Wolke verdunkelt. Was war mit ihr vorgegangen? War dein so heiteren, in seligem Frohsinn dahin wandelnden Mädchen jetzt die Erkenntniß geworden, es bestehe zwischen Mann und Weib doch noch etwas Be- glückeuderes,. Höheres als Werthschätzung, Zuneigung lind Freundschaft? Hatte Barbara in ihrem jungen Schmetterlings leben noch nichts von der Liebe anf den ersten Blick vernommen, von jener Liebe, die weder Zeit und Entfernung zu ändern noch zu unterdrücken vermag, die im Herzen gleich einer jähen Flamme emporschießt und durch keine irdische Macht zn ersticken ist? Seit jenem Besuche auf Lützow war die Stimmung der jungen Braut eine

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