Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1898

37 „Ach, lass' doch das dumme Ding! Ich war etwas ungeschickt. Zittern? Unsinn! Das Malheur ist nicht der Rede werth!" entschuldigte Barbara ihr Versehen. Sie Hob die Splitter rasch vom Teppich auf und legte sie neben sich auf den Tisch, während der Onkel weiter sprach: „Ja, also der Niko kommt für zwei bis drei Tage nach Berlin. Dn wirst mir doch erlauben, ihn Dir zuzuführen, Kindchen?" „Selbstverständlich — bitte sehr, lieber Onkel — Ihr müßt bei mir speisen; wir wollen ihm die Afrika-Idee vertreiben," entgegnete Barbara zögernd, aber mit gewinnendem Lächeln. „Na, wollen unser Möglichstes thun. Gefallen wird er Dir schon, das nehme ich wenigstens an, sonst würde ich ihn nicht mitbriugen. Es ist ein Heller Kopf und hat nichts von dem abgeschmackten Wesen unserer modernen jungen Herren an sich. Auch ein herzensguter Kerl ist er, dem ich wirklich noch einmal ein rechtes Glück wünsche!" Frau Barbara wußte wohl darauf nichts zu antworten, ihre Gedanken schienen nicht mehr bei der Sache zu fein. Nach einigen allgemeinen Fragen verabschiedete sich der Gast von seiner Nichte, um iu sein Hotel zurückzukehren. Sie aber blieb uoch lange, in Träumereien versunken, im stillen, traulichen Boudoir. * Barbara von Otterstein entstammte einer guten bayerischen Adelsfamilie. Ihr vor einigen Jahren verstorbener Vater, Baron Vieregg, war Besitzer eines recht j stattlichen, in der Nähe von Regensburg gelegenen Lehngutes gewesen, welches nach seinem Tode auf seinen Sohn über- giug. Da dieser indeß noch unvermühlt war, so hatten die Mutter und die zwei! jüngeren Schwestern daselbst ihren Wohn-! sitz behalten. Anläßlich eines Aufenthalts in Jnter laken lernte die Familie Vieregg einen | noch activen preußischen General, Herrn von Ottersteiu, kennen, der, obgleich bereits nahe den Sechzigern, noch ein recht stattlicher Mann war und durch sein jngendfrisches, liebenswürdiges Wesen sich als höchst angenehmer Gesellschafter erwies. Die beiden gleichalterigen Herren attachirten sich sehr aneinander, so daß Baron Vieregg den General ersuchte, sich auf der Weiterreise ihnen anzuschließen. Mit den drei jungen Mädchen verkehrte dieser in völlig harmloser Weise, und auch als mau später nach Hause zurückgekehrt war und sich den neuen Freund als Gast heimgebracht, ahnten die Eltern noch immer den Grund nicht, weshalb Herr von Otterstein sich solche Mühe gab, die liebenswürdigste, jugendlichste Seite herauszukehren. Eines Tages aber versetzte er Alle in größte Ueber- raschung, indem er um die Hand der liebreizenden, kaum 19jährigen Barbara anhielt. In rückhaltloser Weise offenbarte er sich dem Vater und erklärte, Barbara's kindliche Anmuth und bezaubernde Natürlichkeit hätten ihn, den alten Junggesellen, in dessen Inneren sich bisher nie Heiratsgedanken geregt hätten, ganz entzückt; er würde es als höchste Vergünstigung des Schicksals ansehen, Barbara sein Weib zu nennen. Er glaubte, auf der gemeinschaftlichen, für ihn ver- hüngnißvoll gewordenen Reise des jungen Mädchens freundliches Interesse für ihn wahrgeuommen zn haben. Bei solchem Altersunterschiede könnte er leidenschaftliche Liebe nicht beanspruchen, allein die kleinsten Zeichen ihrer Zuneigung zu ihm würden ihn befriedigen und beglücken. Dem Baron, wie seiner Gemahlin kam diese Enthüllung selbstverständlich aufs Höchste überraschend. Sie vermochten nichts zu thun, als die Entscheidung der Tochter selbst zu überlassen. Vom praktischen Standpunkte aus erschien den Eltern dreier heiratsfähiger Töchter diese Partie als durchaus nicht verwerflich. General v. Ottersteiu hatte sich außerdem über das ihm zur Ver füguug stehende Vermögen geäußert,

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