Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1898

28 „Er hatte ein Herzleiden, das mir zn ernsten Bedenken keinen Anlaß gab. Der plötzliche Tod hat mich überrascht. Wahrscheinlich hat sich der Mann bei seinen wissenschaftlichen Arbeiten in letzter Zeit zu sehr angestrengt, allzukräftig ist er ohnehin nicht — dazu vielleicht eine plötzliche Aufregung, oder sonst etwas, was sich meiner Kenntnißnahme entzogen hat. Wir Aerzte stehen bisweilen vor Räthseln, unsere Wissenschaft ist immer nur Stückwerk. ,Rasch tritt der Tod den Menschen an', Sie kennen den Ausspruch unseres Schiller." „Hier dürfte man wohl richtiger sagen: ,Oft tritt der Tod den Menschen an"', bemerkte mit sarkastischem Lächeln der Polizeicommissär, „das wird uns der Herr Pfarrer bestätigen." Der Arzt und mein Amtsbruder blickten erstaunt auf mich. „Wie ist das zu verstehen? fragte Dr. Bremer. „Gerade so, wie der Todte jetzt vor uns liegt, habe ich ihn, eben denselben Mann hier, vor vier Jahren im Sarge gesehen", erklärte ich mit Bestimmtheit. „Er war damals nicht todt und lebt auch jetzt noch." Dr. Bremer lächelte. „Ich glaube, Herr Pfarrer, Sie befinden sich in einem schweren Irrthum. Ich habe die Leiche heute Mittags gesehen und untersucht. Der Tod ist wirklich eingetreten, jeder Zweifel ist ausgeschlossen." „Genau so wie jetzt, wurde vor vier Jahren Herr Doctor Hoyer in W . . ., der damals den Todtenschein unbedenklich ausstellte, genau so wurde ich selbst getäuscht, denn hier finde ich denselben, ich schwöre darauf, denselben Mann als nochmals Verstorbenen wieder. Hören Sie mich an, und urtheilen Sie dann selbst!" Nun erzählte ich die näheren Umstände meines damaligen Erlebnisses mit der Familie Lavalle und schloß mit den Worten: „Wenn Sie nun noch im Zweifel sind, Herr Doktor, daß Lavalle und Durallois ein und dieselbe Person ist, dann möchte ich Ihnen ein untrügliches Mittel zur Feststellung der Wahrheit vorschlagen. Verweigern Sie die Ausfertigung des Todtenscheines unter dem Vorwande, daß zuvor die Obduction der Leiche vorgenommen werden müsse. Sie werden sehen, welchen Eindruck diese Erklärung auf die Frau macht." Der Arzt hatte nachdenklich zugehört und sprach dann: „Nach Ihren Mittheilungen, Herr Pfarrer, ist es mir nicht mehr zweifelhaft, daß wir hier einen Kataleptiker vor uns haben. Die an'der Katalepsie leidenden Personen verfallen zeitweise in einen todesähnlichen Schlaf, der längstens einen, in besonders schweren Fällen auch zwei Tage währt. Vielleicht sind hier gewisse Mittel angewandt, um die Dauer des Starrkrampfes zu verlängern. Aber ein Räthsel bleibt es mir, wie ein Mann von hoher Bildung sich zu einer so unwürdigen Komödie und zu einer so groben Täuschung hergeben kann." „Von seiner Bildung halte ich nicht viel," bemerkte ich. „Er verstand nur, sich den Anschein eines Gelehrten zu geben. Vergessen Sie aber nicht die hohen Versicherungssummen!" Ich wurde durch das Erscheinen der Witwe unterbrochen und trat mehr in den Hintergrund, um nicht sogleich von ihr erkannt zu werden. Ja, es war Frau Lavalle, die dort vor uns stand, ich sah es beim ersten Blicke. Mit gramerfülltem Antlitz, die Augen von Thränen geröthet — eine vollendete Schauspielerin, so trat sie uns entgegen. „Ich danke Ihnen, Herr Pfarrer, daß Sie nochmals gekommen sind," sprach sie in gedämpftem Tone zu meinem Amtsbruder. „Der herbe Verlust hat mich schwer gebeugt, ich bedarf Ihres Beistandessehr. AuchJhnen, HerrDoctor, danke ich. Sie wollen mir gewiß den Todtenschein aushändigen. Ich gedenke noch heute mit der Leiche abzureisen."

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