92 83 stäten gesprochen und die durch den Ritus vorgeschriebenen Hören verlesen worden waren, begab sich die Geistlichkeit int Ornate zürn Ausgange der Kathedrale, um die mit Krone und Purpurmantel geschmückte Kaiserin-Witwe Maria Feodorowna zu erwarten. Nachdem der Czar und Czarewna auf dem in der Mitte der Kirche errichteten Throne und ihr Gefolge demselben zunächst Platz genommen hatten, wurden unter den Klängen eines Psalmes Don David die Regalien auf den hiefür bestimmten Tischen niedergelegt, worauf die Ceremonie der Krönung begann. Ueber Ersuchen des Metropoliten vonPeters- 'bur g verliest der Kaiser aus dem ihm darge- Deich ten Buche mit lauter Stimme das Bekenntniß des orthodoxen Glaubens, worauf der Metropolit die Worte: „Der Segen des heiligen -Geistes sei mit Dir, Amen" sprach. Nunmehr wurde das Evangelium verlesen,- worauf -der Kaiser von den Metropoliten von Petersburg nnd Kiew unter den üblichen Gebetsformeln mit dem Pürpurmantel bekleidet wurde. Der Kaiser nahm hierauf die ihm auf einem Kissen Dargereichte Krone, die er sich aufs Haupt setzte, sodann Scepter und Reichsapfel, die er auf hiezu bestimmte Kissen legte, worauf der Kaiser auf dem Thronsessel Platz nahm. Die Kaiserin kniete vor dem Kaiser nieder, der die Krone vom Haupte nahm, damit das Haupt der Kaiserin berührte, um sie sich aufs Neue aufzusetzen. Nachdem die Kaiserin mit dem Purpurmantel und der Kette des Andreas-Ordens geschmückt worden war, kehrte sie auf ihren Thron zurück. Nunmehr ergriff der Kaiser Scepter und Reichsapfel, worauf der Protodiaconus den ganzen kaiserlichen Titel verlas und das Gebet für langes Leben, Glück und Gesundheit der Majestäten anstimmte. Unter Glockengeläute und dem Donner von 101 Kanonenschüssen wurden' die altrussischen religiösen Krönungslieder angestimmt. * * * Per Schreck enstag in Moskau. In der nächsten Nähe von Moskau, und zwar nordwestlich von demselben, breitet sich eine etwa 3000 Quadratklafter messende Ebene aus, auf welcher sich das kaiserliche Schloß Petrowskij Dworez (Peters-Schloß), der kaiserliche Park (Petrowskij-Park), die Moskauer Rennplätze, eine Militärkirche und in: Sommer das Militär- lager befinden, und welche den Namen Chodyns- koje Polje (Chodymsches Feld) führt. Auf diesem Felde wird anläßlich einer jeden russischen Krönung ein Volksfest veranstaltet, wobei zu Beginn desselben eine Menge Geschenke an die Theilnehmer des Festes aus den niederen Nolks- classen vertheilt wird. Diesmal fand das Volksfest auf dem Chodynskoje Polje am 18. (30. Mai) statt, und wurden an das Zu dem Feste aus Moskau und den benachbarten Dörfern herbei- geströmte Volk ein mit den altslavischen Buchstaben N. A. (Nikolaj und Alexandra) und der kaiserlichen Krone von einer und dem kaiserlichen Adler von der anderen Seite geschmückter und mit den russischen Nationalfarben verzierter metallener Becher, ein Päckchen mit allerlei Back- werken, ein Kuchen und eine drei Viertel Pfund schwere Wurst, welche alle Gegenstände in ein mit dem Kronenbilde in der Mitte und dem kaiserlichen Adler in den vier Ecken geschmücktes gelbes Tuch eingeschlagen waren, vertheilt. Die Vertheilung dieser Geschenke, und zwar in 400.000 Bündeln, hätte erst gegen 10 Uhr Früh beginnen sollen.'Das schon in der Nacht herbei- geströmte, nach Hunderttausenden zählende Volk war aber ungeduldig und begann bereits um 3 Uhr Früh die Vertheilung der Geschenke so energisch zu fordern, daß die mit der Bewachung der haufenweise auf dem Felde aufgelagerten Geschenke betrauten Personen den Forderungen des Volkes nachgeben und schon um 4 Uhr Früh mit der Vertheilung der Geschenke beginnen mußten. Da die Menge immer gewaltiger heran- stürmte und die vorderen Reihen derselben an- fmgen, die Haufen der Geschenke zu plündern, fürchteten die rückwärtigen Massen, daß sie zu spät kommen rmd nichts mehr erhalten werden. Diese Letzteren begannen daher mit allen Kräften gegen die vorderen Reihen zrr drücken und unter Rufen: „Ura! Vorwärts! Sonst erhalten wir gar nichts!" nach vorwärts zu stürmen. Infolge dessen entstand unter der Menge ein fürchterliches, Gedränge, m welchem in kaum einer Stunde mehr als 2800 Personen zu Tode erdrückt und über 4000 Personen mehr oder weniger ernst verletzt wurden. Der Anblick der im Gedränge erdrückten Personen, insbesondere der Kinder — es wurden auch viele Säuglinge in den Armen ihrer Mütter sammt Letzteren zu Tode erdrückt — war ein grauenerregender. Als gegen 6 Uhr Früh die für die Aufrechthaltung der Ruhe und Ordnung auf den Chodynskoje Polje bestimmte Polizei- und Militärmannschaft auf demselben erschienen war, war die Katastrophe bereits geschehen. Der erschienenen Polizei- und Militär- mannschaft blieb nichts Anderes übrig, als die Todten und Schwerverletzten aufzulesen und haufenweise zusammen 311 legen. Später erschienen mehrere Wagen der städtischen Feuerwehren und der Sanitätstrnppe, welche den ganzen Tag bis in die Nacht hinein mit der Ueberführung der Todten nach dein Friedhofe Waganjkowskoje Kladbischtsche, und der Schwerverletzten nach den verschiedenen Spitälern der Stadt beschäftigt waren. Als der kaiserliche Hofminister Graf Wa- ronzow-Daschkow von der Katastrophe Kenntniß erhielt, begab er sich unverzüglich zum Kaiser und erstattete über das schreckliche Ereigniß unumwunden vollständigen Bericht. Der Kaiser war durch die Botschaft zu Thränen gerührt und gab sofort Befehl, allen Familien, welche eines ihrer Mitglieder bei der Katastrophe eingebüßt haben, aus seiner Privat- schatulle je 1000 Rubel auszubezahlen und alle Leichenkosten zu bestreiten. Den Verletzten spendete er mehrere hundert Flaschen Madeira. Gleichzeitig befahl der Kaiser, eine strenge Untersuchung einzuleiten, um die wahre Ursache der Katastrophe zu ermitteln. Mit der Leitung dieser Untersuchung wurde der Moskauer Untersuchungsrichter für besonders wichtige Angelegenheiten, namens Keiser, betraut. Man kann sich vorstellen, unter welchen: Eindrücke das so schrecklich begonnene Volksfest auf dem Chodynskoje Polje vor sich ging, und mit welchen Gefühlen das junge Kaiserpaar um 2 Uhr Nachmittags zu diesem Feste fuhr. Als die das ganze Chodynskoje Polje füllende, dichtgedrängte, wenigstens 600.000 Köpfe zählende Volksmenge gegen 2 Uhr Nachmittags der heran- nahenden Equipagen mit dem Kaiser und der Kaiserin ansichtig wurde, entblößte sie wie auf ein Commando die Köpfe und begann freudig und stürmisch „Ura!" zu rufen und die Kappen in der Luft zu schwenken. Als das Kaiserpaar am Balkon des ersten Stockwerkes des Pavillons erschien und sich vor der riesigen Menge ver- .beugte, da kannte der Jubel keine Grenzen. Während die Menge stürmisch „Ura!" schrie und dabei die Mützen in die Höhe warf oder damit in der Luft schwenkte, sangen taufende von Sängern, unter Begleitung von acht Militär- und Civilcapellen und vierzehn Glocken, die russische Volkshymne: „Bosche Zar- jachrani" („Gott schütze den Czaren"), während die am Rande des Feldes ausgestellten Geschütze eine Salve nach der anderen gaben. Die Volkshymne mußte auf Verlangen der Menge achtmal wiederholt werden. Nach der Volkshymne sangen die Sänger und spielten die Capellen, ebenfalls mehreremals und begleitet von dem Spiel der vierzehn Glocken, welche in der Nähe der Estrade hingen, das Glinkaffche Jubellied „Sslawßja, rußkij Zarj!" („Ruhm Dir, russischer Czar!") Das Kaiserpaar, umgeben von den Großfürsten und den Großfürstinnen, den höchsten' -.Hofbeamten und zahlreichen fremden.Vertretern, verweilte über eine Stunde auf dem Balkon, und zwar theils stehend (während der Volkshymne), theils sitzend (während des Jubelliedes), und hörte nicht auf, sich nach allen Seiten hin vor der jubelnden Menge zu verbeugen. Vom Pavillon begab sich das Kaiserpaar in das in der Nähe gelegene Schloß Petrowskij Dworez und empfing daselbst eine Reihe Deputationen, welche dem Kaiser Salz und Brot auf kostbaren goldenen, silbernen oder kunstvoll geschnitzten höl-' zernen Tellern nebst Heiligenbildern überreichten. Nach dem Empfang der Deputationen wurde im Hofe vor dem Schlosse unter großen Zelten ein Diner für die zur Krönungsfeier aus ganz Rußland erschienenen Bürgermeister und Gemeinde- vorstehenden servirt. Während des Diners gingen der Kaiser und die Kaiserin, begleitet von Großfürsten und den: 'Minister des Innern, von einem Tische zum anderen und unterhielten sich mit den einzelnen communalen Vertretern in der leutseligsten Weise. Insbesondere fielen durch ihre Gesichtszüge und ihre Nationaltrachten die. verschiedenen asiatischen Vertreter auf, von denen mehrere vom Kaiserpaare angesprochen wurden. Auf Wunsch des Kaisers wurde am 19. Mai in einer der Kremlkirchen eine feierliche Todten- messe für die am 18. d.- M- auf dem Chodynskoje Polje zu Tode erdrückten Personen celebrirt.
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