Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1897

78 79 Nicht die Sucht, durch rauschende Festlichkeiten von sich reden zu machen, und anch nicht der Gefallen an der Veranstaltung eines glanzvollen Ausstattungsschauspieles vor aller Welt, sind die Triebfedern der in ihrer Art sicherlich ganz einzigen Feier, welche der ungarische Staat mit dem Aufgebote ungewöhnlicher Mittel für das Jahr 1896 vorbereitet. Wo eine Nation mit stammender Begeisterung für ein Werk ein- tritt, wo unter dem obersten Schütze eines gütigen ritterlichen Monarchen alle Schichten der Bevölkerung, alle Factoren des Staates in erMiNenniums-Aus/teNung: Mngarisches Aorf. hebender Einmüthigkeit für eine Idee wirken, dort muß das Werk, 'die Idee auf einer ethisch reinen, dem groben Materialismus fremden Grundlage fußen. Und rein und abgeklärt sind die Motive, die derMillennmms-FeierUngarns zu Grunde liegen. „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht." Vor jenem unbestechlichen Richter, der, erhaben über der Parteien Haß und Gunst, streng aber gerecht sein Urtheil füllt, erscheint das tausendjährige Ungarn. Die Millenniums-Feier soll der Zauberspiegel sein, in dem die verschollene Vergangenheit auflebt und neben die junge, blühende Gegenwart Hintritt. Nach tausend Jahren erwuchs der ungarischen Nation die Ehrenpflicht, einen Act historischer Pietät zu üben. Derjenigen zu gedenken, die den Staat Ungarn gegründet, seinen Beruf erfaßt und das Reich St. Stefans durch Sturm und Ungemach in das breite, ruhige Strombett moderner Culturarbeit geleitet haben. In der ungarischen Volksseele lebte allezeit der rege Sinn für historische Pietät. Es bedurfte bloß des züudeuden Funkens, um die Herzen und Geister für das patriotische Ziel der Millenniums- Feier aufflammen zu machen. Und dieser Funke sprang vom Hause der Gesetzgebung in die Paläste, wo Kunstschätze und herrliche Denkmäler aus längstvergangener Zeit treu gehütet werden, und in die Werkstätten, wo der Gewerbefleiß stolz verkündet, das Jahrhundert, welches Ungarns Millennium voll macht, sei das Jahrhundert der Arbeit. Eine Bewegung ging durch das Land, freudig, machtvoll, alle Kreise ergreifend. Allein, man war auch sofort im Klaren darüber, daß diese Feier, wenn sie beweisen solle, daß die Nachfahren der Ahnen nicht unwürdig sind, denn doch mehr sein müsse, als ein ausschließlicher Act 'der Pietät. Pietät ist Sache des Gemüthes und eine tausendjährige Nation muß ihre Existenzberechtigung denn doch in erster Reihe durch die Arbeit ihrer Hände und ihres Geistes, durch das Vorhandensein politischen Selbstbewußtseins documentiren können. Der prächtigste Theil der Ausstellung, dessen Erfolg von vornherein nicht anzuzweifeln war, ist die historische Hauptgruppe mit deu zahlreichen historischen Bauten. Hier hat die Architektonik den Stift ergriffen, um ein unvergleichlich schönes Bild der durchlebten tausend Jahre hinzuzaubern. Dem Beschauer, der das Ausstellungsterrain, Don der Andrässystraße kommend, betritt, bietet sich ein ungemein effectvolles Bild dar; von mittelalterlichen Basteien umsäumt, ragt aus dem Teiche des Stadtwäldchens eine phantastische Gruppe von Gebäuden empor: ein abwechslungsreicher Complex von Thürmen, Kuppeln, Zinnen, Dächern, Mansarden, Portalen, Giebeln, Strebepfeilern, zackigen Gesimsen aller Baustyle und mit architektonischen Ornamenten aller Art verzierter Fanden. Es scheint, als hätte da ein Heer von Baumeistern der verschiedensten Zeiten ihre Phantasien zu einer Specialausstellung ganz eigener Art vereint. Genauer betrachtet, bietet jedoch diese Gruppe ein einheitlich harmonisch gestaltetes Ensemble, welches in allen Theilen tiefen Sinn birgt, äußerlich die Wandlungen der ungarischen Baukunst darstellt und für den Kenner und Denker in Steinschrift die weltbewegenden Ereignisse eines Jahrtausendes, bedeutsame Momente der Geschichte Mitteleuropas, speciell Ungarns, symbolisirt. Ietttschtand. Hatten wir im Vorjahre Gelegenheit, die Epoche 1894 1895 das Jahr Bismarck's zu nennen, da in diesem Zeitraume Alldeutschland daran ging, in grandioser Weise den 80. Geburtstag seines Einigers zu begehen, so steht die Epoche 1896 1896 unter dem Zeichen der Sedanfeier. Im September 1893 waren es fünfundzwanzig Jahre-her, seit die großen Tage von 1870 verrauscht waren, und in ganz Deutschland jubelte das Volk in Erinnerung an die -glorreiche Vergangenheit. Zahlreiche Denkmäler nild Bailten wurden zum Andenken an die große Zeit errichtet, darunter als größtes das Völker- schlachtdenkmal in Leipzig, und die ganze Feierlichkeit bildete einen Nachhall des Nnhines, den das Viergestirn, Kaiser Wilhelm I., Fürst Bismarck,Kronprinz Friedrich und Moltke, errungen hatte. Von Tag zu Tag schwoll der Jubel höher, Festzüge folgten feierlichen Illuminationen, und so manches Wort mußte in Frankreich gehört werden, so mancher Jubellaut. . . Drüben gedachte mau auch der 26 Jahre, aber es war kein freudiges Gedenken, und wenn auch in der Tasche die Faust schlagbereit geballt war, nach außen hin bot Frankreich sowie die französische Presse keinerlei Anlaß, um die erregten Gemüther noch nrehr zu erregen. In der Frage der Chartered-Campagnie, die in Transvaal die Buren in unerhörter Weise bedrückte und aussog, sprach Kaiser Wilhelm ein ernstes Wort. Er war derjenige, der an den Präsidenten Krueger in Transvaal ein Glückwunschschreiben richtete, als die Raubzüge Jamesorsts abgeschlagen wurden, und erstellte sich damit in scharfen Gegensatz zu England, dessen Einfluß in Afrika der Kaiser von vornherein verdammte. In England fand Deutschlands Kaiser seitens der Presse nicht den Empfang, anf den der Eilkel der Königin hoffen durfte, als er sich über den Canal begab. Im Nebrigen verdankt die gesummte Welt Deutschland Heuer wieder eine Erfindung, deren Größe noch garnicht abgeschätzt werden kann; es ist dies das Röntgenffche Licht, dessen Erfinder, Professor Röntgen, in Würzburg lebt, nach welcher Stadt die ganze Welt. blickte, als die Kunde von der großen Erfindung laut wurde. Durch die Röut- genffche Entdeckung ist es - möglich, dnrch alle Gegenstände hindurch Photographien aufzu- nehmen, so zum Beispiel bei einem lebenden Körper das Skelett, eine Stelle in einem Kasten und den Inhalt verschlossener Schatullen rc. In erster Linie hat sich die Medicin dieser Entdeckung bemächtigt und verdankt ihr bereits, trotz der kurzer Frist, die größten Erfolge. Auch an anderen „Berühmtheiten" hat es Deutschland Heuer nicht gefehlt; da steht im Vordergründe der edle Freiherr von Ha innrer st ein, der Freund Stocker^s, ben man in Griechenland festnahm, der Rechtsanwalt Fritz Friedmann, der sich rrach Frankreich wendete, aber von Bordeaux aus ausgeliefert wurde. Friedmann zählte, wie seinerzeit Mark breit er in Wien, zu den größten Vertheidigern in Berlin. Eine sensationelle Wendnng nahm die Affaire Friedmann dadurch

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